März 2014
Vor dem Platz der Einheit drängelt sich ein hübscher Junge an mir vorbei. Er hat honigbraunes Haar, trägt eine teuer aussehende, nachtblaue Steppjacke und hält ein Paket Eier in der Hand.
Ich sehe zu, wie er mit der grünen Eierschachtel über die Straßenbahngleise flitzt und überlege für einen Sekundenbruchteil, wie es wäre, mit ihm Rühreier zu frühstücken. Irgendwo in der Sonne, auf einem Balkon, er lächelt die ganze Zeit, und hinter uns ist das Meer und all der Scheiß. Er hat bestimmt ein hübsches Lachen.
Ich überlege, wie lange es her ist, dass jemand mit mir gefrühstückt hat, und wie viel länger noch, dass dabei gelächelt wurde.
Der Junge wartet jetzt auf die Tram und ich frage mich, was er überhaupt mit den Eiern will. Warum hat der keine anderen Lebensmittel dabei, eine Tüte oder Tasche? Aber er trägt nur diese kleine, grüne Pappschachtel. Bestimmt hat seine Mutter gesagt: Hol doch noch Eier, bevor du heim kommst. Ich brauche welche. Oder seine Freundin.
Ich stelle mir vor, was wäre, wenn er die Eier fallen ließe, es gäbe eine Sauerei auf dem Bürgersteig, und dann käme er nach Hause, ohne Eier. Die Freundin würde sich mit ihm streiten deswegen, so läuft das nämlich in langen Beziehungen.
Da freut man sich nicht mehr, dass der Liebste nicht von der Straßenbahn überfahren wurde, wenn er heim kommt, sondern man ärgert sich, weil er keine Eier dabei hat.
Man streitet sich; der Eier wegen, wegen des Vergessens, der Nachlässigkeit und der allgemeinen Lieblosigkeit in solchen Dingen, und dann kommt man von den Eiern auf die Socken im Flur, die Telefonrechnung, die Lippenstiftreste im Bad, und dass er nicht mitwill zu den Eltern an Ostern. Und dann sieht man den Menschen an, mit dem man seit Jahren sein Leben teilt, sein schönes, stolzes Profil, und man denkt nicht mehr: Du müsstest in irgendeinem Hollywoodfilm einen Wikingerkönig spielen, schön, wie du bist, sondern nur noch: Alter, du gehst mir total auf den Sack, Betonung auf alt.
Und das ist es dann, das Ideal des Beziehungslebens und der eheähnlichen Zustände.
Ich frage mich: Muss das wirklich immer so enden? Ist es dann vielleicht nicht doch besser, den Angebeteten gar nicht erst bei sich zu haben, auch wenn einen die Leere auf dem Kopfkissen nebenan anbrüllt wie ein Orkan, der mit Windstärke 8 durch verlassene Häuserschluchten fegt?
Auf Rühreier hat jetzt niemand mehr Lust.
Das Klingeln der Straßenbahn reißt mich aus den Gedanken. Der Junge steigt ein; er hält den Eierkarton mit der einen Hand an die Brust gedrückt und sich selbst mit der anderen fest. Wie es aussieht, sind alle noch heil.
Ich denke noch bis zur nächsten Kreuzung an ihn, dann erreiche ich den Hafen.
Er liegt ruhig und verwaist in der nächtlichen Finsternis. Kein Schiff liegt dort vertäut, es wartet kein Ankerplatz auf mich, erst recht kein schöner Seemann. Dennoch ist jeder Schritt in die Dunkelheit ein umarmender, und die Stille ist wunderschön.
Hinter Pier E huscht eine Ratte aus dem Gebüsch. Kleine, schlaue Knopfäuglein und ein vorwitziges, witterndes Näschen sondieren die Lage. Ich warte, bis der Ratz mit seinen Verrichtungen fertig ist und wieder Deckung bezogen hat, ich will nicht stören. Aus den Zweigen ertönt das leise Fiepen seiner Artgenossen. Er ist nicht allein, denke ich, das ist gut.
Am Pier F öffnet sich der Hafen zur Havel; hier liegen die Ruheplätze der Lachmöwen.
Ich sehe die schönen Vogel in ihrem weißen Winterkleid mit dem typischen Ohrfleck als schwarz hingetupfte Silhouetten auf dem Wasser schaukeln. Ein milchiger Mond wirft einen Schleier grünweißen Lichts auf sich wiegendes Schilf, und ich wünschte, ich könnte jetzt auch meinen Kopf in warmes Gefieder stecken, immun gegen die Kälte an meinen Füßen, und schlafen bei meinen Gefährten. Nicht allein, aber jeder für sich, und nur mit dem zum Überleben zwingend Notwendigen an Intelligenz ausgestattet, was einem nächtliche Reflektionen über Eier, Beziehungen und Lachmöwen erspart. Aber ich bin keiner von ihnen, also sehe ich nur noch eine Weile hinüber und gehe.
Von der Brücke aus schaue ich zum letzten Mal aufs Wasser. Irgendwo springt ein Fisch und zerhackt die Spiegelung des Laternenlichts in Scherben.