Momentaufnahme, Friedhof
Die Vogelscheiße ist hartnäckig auf dem Granit. Ich habe nichts zum Abbürsten dabei, also fische ich ein Knäuel Blumenpapier aus dem Müll, halte es unter den Wasserhahn und schrubbe damit den Grabstein ab, so gut es eben geht. Schnell färben Moos, Staub und Scheiße das feuchte Papier dunkelgrün, bevor es sich in meinen Händen auflöst. Es hat ja lange nicht geregnet.
Eine Schaufel habe ich auch nicht dabei, und es ist schon bescheuert, wenn man sich zwar vornimmt, das Grab der Urgroßeltern auf Hochglanz zu bringen, aber dann alles Wichtige daheim lässt. Also wühle ich mit bloßen Händen Löcher in die staubige Erde und setze Primeln, Stiefmütterchen und Narzissen.
Es ist ein strahlender Frühlingstag. Die zarten Blütenblätter der Zierkirschen spielen im lauen Wind wie roséfarbenes Schneetreiben, in den Bäumen zwitschert so ziemlich alles, was der deutsche Singvogelmarkt hergibt, und ich frage mich, warum es auf einem Friedhof so schön sein darf.
Ist das nicht ein Ort der Trauer? Passen hier nicht Regen und Finsternis? Wäre nicht alles andere zynisch? Ich kenne doch das Gefühl, wenn mich im Frühjahr die Depression überkommt: Die Sonne lacht mich aus, die Menschen essen Eis und verlieben sich, und ich, ich darf nicht traurig sein, weil man das bei schönem Wetter nicht macht und im Sommer sowieso nicht. Wie sehr sehne ich mich dann nach grauem Himmel und kaltem Regen, der an die Fensterscheiben klatscht! Danke Himmel, denke ich dann, danke, dass du mir Beistand leistest.
Es könnte einem Grauen vor dem latenten Zwang zum Frühlingsgefühl, sobald man das erste Mal die Jacke öffnen kann. Dabei ist der Mai der Monat mit der höchsten Selbstmordrate und nicht, wie man vermuten möchte, der dunkle November, wenn Licht und Leben aus dem Jahr weichen. Ich verstehe das: Denn wer fühlt sich schon gern im Inneren tot, was nunmal das Kennzeichen einer Depression ist, wenn sogar die verdammte Natur um einen herum tanzt und liebt und lacht, von den Mitmenschen ganz zu schweigen?
Ich erinnere mich an ein Schultheaterstück, das ich als Kind sah, und von dem mir eine Szene im Gedächtnis blieb: Ein Mädchen sitzt zwischen bunt herausgeputzten Häusern in einer Stadt, in der auf Befehl des Bürgermeisters niemand traurig sein darf, damit sie die schönste Stadt der Welt werde, und weint bitterlich. Auf die Frage nach dem Grund, nein, den Vorwurf des Weinens hin sagt sie: „Ich weine, weil ich nicht weinen darf.“
Das habe ich behalten. Seither denke ich jeden Frühling daran.
Andererseits: Ein Friedhof ist auch ein Ort des Erinnerns, nicht nur des Betrauerns. Ein Ort der Erinnerungen an schöne Zeiten mit den Verstorbenen. An ihr Lachen, an die Marotten, an die dreckigen Witze, die sie erzählten. Kann man da nicht mal lächeln und hoffen, dass ihnen die Blumen gefallen? Und sei ihnen nicht auch der Wechsel der Jahreszeiten vergönnt, das erste Rotkehlchen, das im Frühjahr über die Erde tapst, die Nachtigall in der Hecke und der Fuchs, der zwischen den Grabhügeln nach Mäusen für die Jungen in seinem Bau stromert? Wir wissen ja nicht, was man noch mitbekommt von oben. Als guter Atheist denke ich natürlich: Nichts, tot is tot, der Rest ist Biochemie, und die Seele, mein Gott … Obwohl: an den denke ich dann wohl gerade eher nicht.
Allerdings legte ich meine Hand nicht dafür ins Feuer, und so bin ich wohl doch nur Agnostiker.
Ich blicke hoch. Der Himmel strahlt azurblau wie die Augen des Lieblingsmenschen; ich denke an den Geruch und die Weichheit sonnenwarmer Haut, sein hübsches Gesicht und die kleinen Pigmentflecken, von denen ich mir einrede, das es Sommersprossen seien, obwohl ich weiß, dass es sein Alter ist. Man kann es sich ja nicht schönreden: Auch wir haben die Hälfte herum. Noch 20, 30 Frühlinge, und auch wir zersetzen uns irgendwo, in der Erde oder in der See. Ich werde nicht mitbekommen, ob der Lieblingsmensch vor mir stirbt, denn wahrscheinlich gibt es ihn in meinem Leben dann schon gar nicht mehr, wie so viele, und ich weiß nicht, wer und was dann bleibt. Ich habe kein Händchen für Dinge mit Bestand.
Und die Urgroßeltern? Die kannten mich ja nicht einmal und ich sie nicht. Aber es fließt ja ein wenig Blut davon in mir, und mein Vater erinnert sich noch: Er kennt die Schwarzweißfotos, die er mir zeigte, in Farbe, und dazu Bewegungen, Stimmen, Launen und Gerüche. So lange das in einem Menschen lebt, darf man die Toten nicht vergessen, und ich hoffe, dass auch mir jemand bleibt, der ab und zu mal was Grünes in mein geliebtes Meer wirft, wenn ich dort längst Plankton bin, oder der meine Augenfarbe erinnert.
Eine kleine Spinne hat sich aus dem Busch über mir geseilt und kitzelt an meinem Ohr. Ich mag keine Spinnen, um es vorsichtig auszudrücken.
Da ich mich ausgerechnet auf einem Friedhof aber keines Mordes schuldig machen will, streife ich sie nur ab und sehe dann zu, dass ich schnell fertig werde mit meiner Arbeit.
Meine Hände sind schwarz vor Erde. Am Wasserhahn steht ein kleiner, älterer Herr mit weißem Haar und seiner Gießkanne. Er ist sehr alt, ich schätze ihn auf Ende 80.
„Guten Tag“ sage ich, und er dreht sich um und lächelt freundlich. „Guten Tag“, sagt er. „Möchten Sie auch an das Wasser? Ich kann es Ihnen gern anlassen. Bitte.“ „Ja, vielen Dank. Ich muss mir die Hände waschen“, sage ich und halte meine verdreckten Pfoten in die Höhe. Er lacht. „Sie haben gepflanzt, ja?“ „Ja, bei den Großeltern. Und Sie?“ „Ich gieße nur,“ sagt er, „bei meiner Frau“. Ich murmele „Oh“ und möchte etwas Anteilnahme ausdrückendes sagen, aber wahrscheinlich ist seine Frau schon sehr lange tot, denn der Mann lächelt noch immer und es ist ein herzliches Lächeln, kein tapferes.
Wir wechseln noch ein paar Sätze. Ich bin überrascht über seine ausgesuchte Höflichkeit und das milde Wesen, das im tendenziell ruppigen Berliner Umgangston doch selten ist. Der eher hanseatischen Sprachmelodie und der gepflegten Kleidung nach ist er aber auch kein Berliner, zumindest nicht gebürtig.
Und auf einmal bin ich traurig wegen meiner Gedanken vorhin: Dass auf Friedhöfen kein Frühling sein sollte. Lass den lieben Herrn doch noch Frühlinge haben mit seiner Frau, selbst wenn es hier sein muss. Bestimmt weiß er noch, welche Blumen sie liebte und was sie gern aß an solchen Tagen: Eis vielleicht, oder Erdbeerkuchen. Die haben bestimmt viel zusammen erlebt, denke ich, und mir wird bewusst, wie unendlich wertvoll Erinnerungen sind. Und um wieviel achtsamer man sein sollte, um das zu konservieren, was man mit geliebten Menschen teilt: Denn irgendwann sind die Erinnerungen das Einzige, was bleibt.
Aber ich kann mich ad hoc nicht einmal mehr daran erinnern, wie mein Lieblingsmensch seinen Kaffee trinkt.
Ich kehre zurück zum Grab und richte noch ein paar Feinheiten. Aus den Augenwinkeln sehe ich den Mann auf dem Hauptweg. Ich blicke hoch und er lacht wieder dieses herzliche Lachen und winkt mir, die grüne Gießkanne hängt an seinem Arm und seine schönen weißen Haare leuchten in der Sonne. „Auf Wiedersehen!“ ruft er, „Haben Sie einen schönen Tag!“. „Auf Wiedersehen!“ rufe ich zurück, bedanke mich und winke ebenfalls.
Schmerzlich wird mir bewusst, dass dies vielleicht auch für den netten alten Mann der letzte Frühling ist, und dann gibt es kein Wiedersehen. Das ist der Lauf der Natur, ja.
Aber manchmal wünscht man sich ja doch, die Zeit würde die Blütenblätter noch ein wenig länger an den Zierkirschen lassen, bevor sie auf einen herabrieseln am Friedhofstor und sich mit der Erde vermischen.
Zuhause möchte ich den Lieblingsmenschen zum Kaffee einladen, nur um zu prüfen, ob er Milch und Zucker hineintut oder nicht.
Ich habe das Gefühl neben Dir auf dem Friedhof zu stehen ;). Du schreibst in Bildern!
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ach, 1000 dank! ja, das war ein sehr prägender tag. damit hast du dir auch die lieblingsgeschichte meiner mutter herausgepickt 🙂 grüße! p.s.: der damalige lieblingsmensch schrieb mir als rezension nur 6 worte: „ich trinke übrigens kaffee mit milch“ — manche geschichten haben also noch eine kleine fortsetzung 😉
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