Momentaufnahme, Alexanderplatz

Du bist nicht mehr da. Irgendwie gelange ich in die U-Bahn, sie endet vorzeitig am Alexanderplatz. Außerplanmäßiger Halt, noch einer. Es ist dunkel und nieselt, aber ich friere nicht, ich fühle gar nichts, aber ich weiß auch nicht wirklich, wo ich bin, als ich von mürrischen BVG-Angestellten die Treppe hochgescheucht werde. Mühsam orientiere ich mich an den Hochhäusern; irgendwie muss ich zur Straßenbahn. Da hinten, irgendwo.  Automatisiert steuere ich durch Gassen, durch die ich mich nachts noch nie getraut habe. Ist doch eh alles egal. Jetzt. Du wirst an keiner Ecke mehr auf mich warten, oder, den hübschen Kopf über dein iPhone gesenkt, versehentlich an mir vorbeilaufen, und niemand von uns wird mehr darüber lachen: Denn wenn du das nächste Mal an mir vorbeiläufst, erkennst du mich vielleicht nicht mehr — und zwar mit Absicht.
Ich erinnere wenig oder verdränge viel: Ein Wespennest, in das ich stach, ich weiß nicht welches, die blauen Augen binnen Sekunden grau wie dräuende Gewitterwolken, und deine Liebe irgendwo, wo ich sie nicht mehr erreichen und nicht mehr verstehen kann. Das Lachen verschwunden, die Arme verschränkt statt haltend, und das Gesicht nur noch ein stummes: Nein.

So enden Dinge. Monatelang lernt man Biografien, Namen, Verwandte, Vorlieben und Details, um all das dann plötzlich als nutzloses Wissen vorzufinden, weil das Gegenüber beschließt, zu fehlen, oder weil man ihm keine Wahl lässt: Der Mensch ist nicht unfehlbar.
Man inspiriert und bereichert sich, und plötzlich ist all das auf dem Müllhaufen der Geschichte, weil der Zauber, dem Anfang innewohnend, mit dem Gefühl nicht Stand halten konnte; mit dem Gefühl des einen, das einsam wurde, vom anderen überrannt oder ermordet, oder das so einfach starb.
Und der andere steht dann da mit seinem eigenen, jetzt überflüssigen und nutzlosen Gefühl in der Hand, wo die Hand des anderen sein sollte, und vermisst.
Man erinnert diese Hand, die feinen Furchen, die Fingernägel, die nie wirklich sauber waren, aber von der anpackenden Bodenständigkeit zeugten, die man begehrte; die Finger, die man immer ein bisschen plump fand, und die man plötzlich genau deshalb wie wahnsinnig liebt, jetzt, wo sie sich nie wieder um die eigenen schließen oder sich diesen entziehen werden. Jetzt hält man nur noch: Nichts.

So enden Dinge, jeden Tag, jede Stunde, irgendwo, bei irgendwem, und man fragt sich, wie ein so trivialer Schmerz so zerreißend sein kann, und wie eine Abwesenheit so laut. Der Schlaf wird zum Feind, er entzieht sich; dafür ein rebellierender Magen, steinschwere Lungen und ein jagendes Herz, das so wummert, dass man seine Brust festhalten muss und sich fragt, ob es rauswill zum Streik, weil es die Nummer schon kennt und so dermaßen Leid ist.

Und dann ist man allein mit diesem großen Nichts, kann nicht weinen, noch nicht, und taumelt entlang am ölschwarzen Fluß, in dem sich kein geliebtes Gesicht mehr spiegeln wird; zumindest nicht neben einem.

Nach Hause? Es gibt bald ein neues Zuhause, tröste ich mich, ein schöneres, mit lauter Möwen, klarer Luft und dem Meer. Mit einer schönen Arbeit in schönen Anziehsachen und einem verbläuten Herzen, das heilen wird, heilen muss, ein Mal noch, wie schon so oft zuvor, das so viel erträgt und noch mehr erschlägt mit seiner ungezügelten Liebe darin oder dem, was sich dafür hält: Liebe ist ja nicht nur manchmal der schlimmste Widersacher ihrer selbst.

Ich werde glücklich sein auf der Insel. Ich werde dir Fotos schicken wollen und erzählen. Ich sehe dich schon, wie du lachst und fragst und kommentierst. Ich freue mich so sehr, dass du das mit mir erleben willst, egal, wie viele Kilometer zwischen uns liegen. Aber dann fällt mir ein: Du bist nicht mehr da.
Unsere Leben haben ihre Schnittmenge verloren. Und so werde ich am Hafen stehen, auf dem Deich, mit all dem Glück in meiner Brust, und es Wind und Wellen feilbieten.
Ein verunglückter Abschied, ein Wort zu viel, ein falsches Gefühl, zu laut geäußert, und dann: Stille.
Sehnsüchtig erwarte ich das Brandungsrauschen, das die Stille durchdringt. Drehe das Kreuz in den Wind, den Blick nach vorn, und flehe das Meer an, das geliebte Meer: Nur einmal. Hab nur bitte einmal nicht die Farbe seiner Augen.

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4 Kommentare

  1. Gaby sagt:

    Lieber Mayk , siehst aufs Datum habe ich garnicht geschaut sondern mir Sorgen gemacht, dass du in ein Tief gerutscht wärest , nun bin ich beruhigt liebe Grüße Gaby

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    1. Ach was, keine Sorge 🙂 ❤

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  2. Gaby sagt:

    Ein einziger Grundsatz wird dir Mut geben, nämlich der, dass kein Übel ewig währt .

    Denn wenn du ein glückliches Leben willst, verbinde es mit einem Ziel , nicht mit Menschen oder Dingen „Albert Einstein “

    Schau aufs Meer und seh die Farbenvielfalt u nicht „die eine“ Farbe

    Herzlichst Gaby

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    1. Liebe Gaby, die Geschichte ist zwei Jahre alt, ich habe sie angesichts des „Jahrestags“ nur noch einmal ausgegraben. Ich schrieb sie im wirklich akutesten und lautesten Schmerz, nämlich in der Nacht, als ich von *ihm* zurückkam und wusste: Ich sehe ihn nie wieder. Ich hätte ihn 3 Tage später noch im Theater sehen können, wo er einen Auftritt hatte, aber die Karte ließ ich verfallen. Ich hätte das nicht geschafft. Und am nächsten Morgen ging der Zug nach Langeoog … Also wusste ich: Das ist endgültig.
      Aber keine Sorge, ich habe genügend andere Quellen des Glücks … wie du ja auch meinen neueren Geschichten entnehmen kannst 😉 LG Mayk

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