Momentaufnahme, Strandkorb

Zu meinem Strandkorb führen Möwenspuren; mit einer Schleifspur zwischen den Fußabdrücken. Aha, denke ich, sicher eine Möwe, die ihre Beute im Schutze des Strandkorbes hastig verschlingen wollte, bevor die Konkurrenz darauf aufmerksam wird. Und tatsächlich: Es gibt weitere Spuren von rechts, eine tumultverdächtige Ansammlung von Spuren in der Mitte sowie die Überreste eines kleinen Krebses. Krawall ist wohl überall.
In mir indes herrscht tiefer Frieden. Ich bin zuhause. Endlich. Und immer noch überwältigt mich die Schönheit dieser Insel, dass es mir die Tränen in die Augen treibt, wenn ich die Holzbohlen zum Strand hochlaufe und auf die in der Abendsonne glitzernden, mäandernden Priele vor der am Horizont brandenden Nordsee blicke. Ich fühle mich umarmt von der Weite des friesischen Himmels mit seinen unglaublichen Wolken, von der Stille, dem Vogelkonzert in den Dünen, dem Brausen des Seewindes und der würzigen Luft. Man wird so schnell eins mit dieser Natur, und ich will hier nie wieder weg.

Natürlich denke ich manchmal noch an andere Orte, die mein Zuhause werden sollten. An meine Sittiche, die ich zurücklassen musste, an all meine schönen Sachen, die ich nicht mitnehmen konnte. Und natürlich denke ich noch an dich. Dann sitze ich im Strandkorb und stelle mir vor, mich in den weichen Stoff deiner meergrünen Kapuzenjacke zu kuscheln, die du so liebst, und den warmen Duft deiner Haut daraus einzuatmen. Ich stelle mir vor, du würdest hier ruhig mit mir sitzen, du, der mich so sehr an die See erinnert, nicht nur deiner Augenfarbe wegen, die alle Nuancen des Meeres anzunehmen im Stande ist.In geborgenem Schweigen säßen wir, und irgendwann würdest du ein Lied summen oder etwas erzählen, und ich würde in deiner schönen Stimme versinken wie in einem weichen Federkissen. Aber so liefe das nicht. Alle 3 Minuten würdest du dir eine neue Zigarette anzünden, alle 2 auf den iPhone schauen, als Lautäußerung lediglich ein missgelauntes Grollen deiner nordischen Stoffeligkeit, und dann würdest du gehen, weil du es hier hasst: Zu ruhig, zu wenig Menschen, und es gibt nicht einmal Schnaps.Ich sehe dir in meiner Vorstellung noch eine Weile hinterher, deiner kleinen Gestalt, und du verschwindest, irgendwo hinter Baltrum. Es fällt nicht allzu schwer. „Ich bin traurig, leide nicht“ sang Grönemeyer mal, und das trifft die Sache ziemlich genau. Für einen ist im Strandkorb sowieso viel mehr Platz.

Ich lehne mich zurück und genieße die tägliche Naturshow nach Feierabend. Majestätische Austernfischerschwärme, deren Formation bei jeder Drehung mal silberfarben, mal schwarz aufleuchtet, je nachdem, ob gerade das weiße Bauchgefieder oder der schwarze Rücken zu sehen ist. Es ist ein atemberaubender Anblick. Was immer mich traurig macht: Langeoog tröstet.Denn diese Liebe ist hier; sie bleibt, sie überschüttet mich mit ihrer Schönheit mit endloser Nachsicht. Denn auch wenn die See sich einmal grau verfärbt und tobt: Ich weiß, sie verlässt mich nicht. Natürlich zieht sie sich zurück bei Ebbe, aber ich weiß, sie kommt wieder.Morgen wird sie wieder blau sein, und sie wird ihre Wellen ruhig ans Ufer legen, mit einem beruhigenden, sanften Rauschen, das mich still schlafen lässt in meinem Strandkorb, eingekuschelt in die Wärme der letzten Sonnenstrahlen. Doch auch vom Sonnenlicht kann ich mich ruhig verabschieden. Denn ich weiß: Ich muss hier nicht weg.Schon morgen wird alles, was ich liebe, zurück sein, und die Sonne wird wieder aufgehen: Irgendwo hinter Baltrum.

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