Der plötzlich einsetzende Starkregen hämmert Salven golfballgroßer Löcher in den Sand und die See tobt in Furor, mit weiß aufspritzender Gischt als würfe ein cholerischer Bäcker Tassen mit Mehl an die graue Wand des ostfriesischen Schietwedderhimmels. Ich sitze, ins Ölzeug geschnürt, mit Thermoskanne und Decke im Strandkorb, an dem der Wind zerrt und rüttelt, als habe ich Sterblicher hier nichts verloren: Vom Platze verwiesen von der Natur, deren Macht ich hier stärker spüre als je zuvor. Aber ich bleibe und schaue mir das Spektakel an.
Es dauert nicht lange. Schon schiebt sich zartes Blau zwischen die gewaltigen Wolkenberge, und erste Möwen verlassen den Schutz der Dünen auf der Suche nach vom Regen freigespülten Muscheln und Wattwürmern. Kurz darauf treffen erste Sonnenstrahlen meinen Strandkorb und mir wird warm unter dem Ölzeug.
„Auf Regen folgt Sonne“ — Wie sehr habe ich diesen Spruch als billigen, platten Trost immer gehasst, ja geradezu verachtet! Und wie sehr ist er hier wahr, und vor allem: Wie schnell. Dinge ändern sich, aber wohl kaum etwas in so rasender Geschwindigkeit und mit solcher Inbrunst wie das friesische Wetter: Es regnet, als wolle die Welt untergehen, und wenn die Sonne scheint, dann tut sie das in ans Langweilige grenzender Makellosigkeit auf knallblauer Leinwand.
Ich habe heute frei, und der Nachteil davon, im Kopf mal nicht zwischen 1001 Gästewünschen sowie allen im Hotel anfallenden Routinen hin- und herschalten zu müssen, ist, dass der Kopf Zeit hat, im Herzen Erkundigungen anzustellen: Nach dem Befinden, zum Beispiel. Und anstatt dass das Ding die Fresse hält, nutzt es dreist die Gelegenheit und schickt gleich Bilder von da unten rauf ins Hirn; anbei die Notiz: Vermisst.
Ich sehe meinen Lieblingspub. Ein Pint, ein kaltes Pint Strongbow, ja. Bitte. Die schöne irische Kellnerin fällt mir ein und ich bereue, sie nie nach ihrem Namen gefragt zu haben. Ich brauche einen Frauennamen, einen schönen irischen Frauennamen, damit ich mich zumindest in der Erinnerung mit ihr anfreunden kann, Gael, Moira, Cinead, irgendwie sowas. Ich frage mich, ob sie jetzt dort arbeitet und ob sie Irland vermisst, das Grün, die Weite, die Irische See.
In einem Langeooger Laden sah ich ein zartes Armband mit einem winzigen Steuerrad als Anhänger, wahlweise mit einem Anker, und ich könnte ihr das schenken, damit es silbrig aufglänzt an ihrem Handgelenk, immer, wenn sie sich das weiche nussbraune Haar aus dem Gesicht streicht. Ich vermisse ihr bildschönes Lachen und den süßen irischen Akzent, aber sie kennt mich ja nur als Gast, und also wird sie keine Armbänder von mir tragen und auch nicht herkommen, um mit mir im Seewind zu sitzen, dazu noch an meinem Meer, nicht an ihrem.
Meine Gedanken bleiben im Pub. Ich erinnere ein erstes Date, die aufkeimende Wut wegen des Wartens vor der Tür („Für wen hält dieser alte Sack sich eigentlich?“), den ersten Eindruck („Meine Güte, ist der klein!“) sowie die Überlegung, ob ich ihn attraktiv finden soll oder nicht. Ob die etwas zu kleinen, hellen Augen mit ihrer ständig wechselnden Farbe und dem intelligenten, aber lauernden Ausdruck darin ihm nicht etwas Reptilienhaftes verleihen. Oder ob das sexy ist. Ob sein klar gezeichnetes, unverkennbar nordisches Gesicht charaktervoll ist oder einfach nur verbraucht. Ob er schön ist oder es nur war. Um dann schon beim zweiten Pint nach seiner Hand zu greifen und am Ende des Tages festzustellen, dass ich ihn lieben könnte; dass ich sein Freund sein möchte, trotz oder obwohl er so ganz anders ist als die 26jährigen Puppenjungen mit ihrer samtweichen Schönheit, die ich zuvor ausschließlich zu begehren glaubte. Wie gesagt: Dinge ändern sich. Moira, Ailean oder Brighid war auch da an diesem Tag. „Where is your friend?“ fragte sie, als es ans Bezahlen ging und ich allein zur Kasse an ihrem Tresen schnürte. „He’s taking a wee, I guess“ sagte ich betont lässig, und sie lachte, aber heute denke ich: Das wüsste ich auch gerne. He’s not here. Not my friend anymore, I guess.
Die Sonne ist zurück und der friesische Himmel erstrahlt in frischgebadeter Unschuld. Das Fahrrad ist bereits getrocknet. Ich setze meinen freien Tag auf der Bank vor der Teestuv am Hafen fort und sehe den Schiffen hinterher: Hafen. Hafen. „Es gibt da noch eine Kneipe dieses Namens“ frohlockt mein Herz in sentimental-masochistischem Schwelgen: Doch ich hab genug für heute und konzentriere mich auf die anlegenden Schiffe, nicht auf die ablegenden. Ein hübscher Junge kommt aus der Teestube und fragt mich, ob ich einen Tee möchte oder ob ich gleich wieder weiter muss. „Ja, gern“ sage ich.
Ich bleibe.