Momentaufnahme, Kutter

Von den feingekräuselten Wellen des graugrünen Ozeans spritzt mir Gischt ins Gesicht. An den sonnenwarmen Schiffsstahl gelehnt, genieße ich die Erfrischung und lasse mich auf dem Hintergrundrauschen aus Motorenbrummen und Touristengeplänkel treiben. Es ist schön, hier zu sein, umgeben vom Meer, das ich liebe, unweit des Heimathafens: Zuhause.

Dennoch sind die Gedanken rastlos. Denn wie könnte ich mich auf einem Schiff befinden, ohne an dich zu denken, den Seemannssohn, die Stimme rau wie das grobe Tauwerk zu meinen Füßen und mit ihrer warmen Tiefe dasselbe wohlige Vibrieren auslösend wie die alten Schiffsmaschinen unter Deck.
In ein paar Wochen muss ich wieder nach Berlin: Nicht aufschiebbare Behördenangelegenheiten, deren seelenlose Kälte einen umsomehr sticht, je mehr man sich innerlich sträubt zu fahren. Ich will nicht in ein Berlin ohne dich in meinem Leben.
Sicher: Meine Sachen. Die Freunde. Der Irish Pub, den ich liebte. IKEA und indisches Essen. Supermärkte ohne Mondpreise.
Dennoch: Es ist zu früh.

Neben mir kuschelt ein Pärchen an der Reling. Ich wende den Blick ab.
Manchmal denke ich noch an deine Hand in meinem Haar, und der Seewind ist kein adäquater Ersatz.
Die Fähre kommt uns entgegen. An Bord lauter Menschen, Urlauber die meisten, auf dem Kontinent einkaufende Insulaner, oder vielleicht jemand wie ich: Mit der Hoffnung, dass es leichter würde, wenn man es selbst ist, der geht. Das ist es nicht. Denn man erwischt sich ja doch nur ständig dabei, wie man die neue Liebe mit der alten betrügt, auch wenn es sich bei der neuen Liebe nur um eine Insel handelt.

Ich sehe das anfängliche warme Lächeln in deinen Augen und all die Farben und die Weite des Ozeans darin: Zumindest war es das, was ich sah, sehen wollte. Und wie es dem wich, was blieb: Einer grauen Masse Nichts.
Tschüss.
Ich ging. Und du bliebst mit dieser Person, die ich hasste, stellvertretend für dich, weil es immer leichter ist, jemanden zu verabscheuen, der einem scheißegal ist, als jemanden, den man liebt, selbst wenn es möglicherweise den Falschen trifft.
„Das Leben ist niemals fair, und für die meisten von uns ist das auch gut so“, schrieb Oscar Wilde.
Life is never fair, und es ist hart, zu verlieren, wenn man nicht einmal würdige Gegner hat. Wenn der Krieg kein Krieg ist, sondern absurdes Theater, Impro dazu.
Also räumt man das Feld noch vor dem Spielende; ohne Kapitulation, aber mit Bitternis; fassungslos ob dieser Lächerlichkeit, mit jenem teerartigen, zähen und schwarzen Giftgefühl im Herzen, das immer nur die anderen gewinnen lässt.

Der Anker fällt und gräbt mich mitsamt dem Kutter in die Heimaterde. Kein Wegdriften mehr in Untiefen, durch die ich nicht steuern kann, um an Klippen zu zerschellen, von denen dein süßer Sirenengesang hallt.
Ich bin hier.

Im zügig hochgehievten Netz glitzert die Beute. Während die Krabben kochen, bestaunen die Touris den Beifang. Eine kleine Scholle schwimmt im weißen Plastebecken; immer wieder reckt sie das niedliche Köpfchen mit den Seitenaugen zum Rand, als wolle sie darüberlugen. „Wie süß“, rufen die Kinder und nehmen die Scholle aus dem Becken, auf der flachen Hand herumzeigend, in der Begeisterung vergessend, dass so ein Fischlein an Land nicht atmen kann. Immer wieder wirft man sie ins Becken zurück und zerrt sie heraus, und ich möchte was sagen, aber traue mich nicht.
Bald rührt sich die kleine Scholle nicht mehr. Platt liegt sie auf dem Wannenboden; die zarten Flossen zerfetzt, die Kiemen in kaum noch merklicher Bewegung.
„Die stellt sich nur tot, oder, Mama?“ Na, wenigstens einer merkt was. Ich werfe der Mutter einen vielsagenden Blick zu.
„Ja“, sagt die Mutter, und sie weiß, dass ich weiß, dass sie lügt, und das Kind auch. „Mörder“, denke ich, man kann das Kind ja ruhig mal beim Namen nennen, im Wortsinne. Angesichts meines ansonsten nicht unbeträchtlichen Appetits auf Scholle Finkenwerder Art mit Butterkartoffeln halte ich aber lieber die Fresse und pule noch eine frischgekochte Krabbe.
Ich kann das wieselflink, harter Lehrjahre im Chinarestaurant sei Dank, obwohl ich es freilich hasste, kiloweise Garnelen den Kopf abzureißen und die Scheiße aus dem Arsch zu wischen, während gefühlt jeder andere in meinem Alter durch die Clubs zog und ein Leben hatte.
Arbeit, Arbeit.

So ist das also, denke ich. Niemand hatte die Absicht, eine Scholle zu ermorden. „Schau mal, wie süß!“ Und dann will man das Lebewesen, das man ins Herz schloss, stolz herumzeigen, ohne zu merken, wie sehr man es mit seiner Liebe erschlägt. So ist das also.

Ich wende den Blick ab. Der Schiffsjunge kippt den Beifang ins Meer: Zumindest bekommt der kleine Fisch eine hübsche Seebestattung.
Bald sind wir wieder im Hafen. In meinem, nicht in deinem, wo ich wohl keinen Liegeplatz mehr bekommen werde. Und also werde ich Trockenfallen im Oktober, irgendwo weit draußen, wo ich dich nicht singen hören kann: Kein Lied von Wiederkehr und keins vom Leben.

Dabei will ich doch gar nicht bleiben. Aber manchmal wäre es schon schön, wenigstens zwei Mal gehen zu dürfen.

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