Momentaufnahme, 11. September

In der Inselkirche auf Baltrum steht ein Votivschiff. Das eindrucksvolle Modell eines Schoners ist dem alten Küstenbrauch geschuldet, dass Seeleute, wenn sie gerettet wurden, Gott zum Dank (oder als eine Art Opfergabe, daher auch die Herleitung vom lateinischen „votum“) ein Schiff schenkten, und so schmücken viele dieser Schiffe die Kirchen auf den ostfriesischen Inseln.
Ich bin kein gläubiger Mensch oder habe zumindest mit dem Bodenpersonal des Herrn so meine Schwierigkeiten, aber da es auf Baltrum sonst nicht viel zu sehen gibt, betrete ich die Kirche und schaue mir das Schiff an.
Hier stehe ich also, im Jahre des Herrn 2014, zwischen hellblau lackierten Kirchenbänken, vor dem winzigen Altar mit Blumen, Kreuz und Schiff. Es riecht nach Kerzen und alten Büchern und man versteht auch als Agnostiker, warum so ein Ort noch immer manchen Menschen Trost spendet, selbst wenn diese mit Gott möglicherweise genauso hadern wie ich.
Und ich hadere. Denn wie wohl viele andere, weiß auch ich noch genau, wo ich heute vor 13 Jahren war.

„Kommt schnell zum Fernseher, in Amerika ist etwas ganz Schlimmes passiert!“ ruft meine Mutter aus dem Bügelzimmer. Mein Vater und ich kommen eine Etage tiefer gerade zur Tür rein und ich habe es nicht eilig, weil in Amerika doch dauernd irgendwas Schlimmes passiert. Das sage ich auch so, aber Muttern setzt ein „wirklich schlimm“ hinterher, und also gehen wir pflichtschuldig gucken. Im Fernsehen brennt das World Trade Center, und ein Mann schreit „Oh my god, there’s another plane!“
Ich kann nicht begreifen, dass der in sich zusammensackende Turm die Wirklichkeit ist, ebenso wenig wie das Flugzeug, das gerade in den zweiten gleitet, als sei er aus Butter statt Stahl und Glas.
Ich sehe all das Papier und die schwarzen Punkte, die schneller zu Boden fallen als das Papier aus den Büros, und irgendeine Ecke meines Unterbewusstsein sagt: Das sind keine Menschen, nein. Sag, dass das keine Menschen sind. Nicht jetzt und nicht wirklich. Film. Ein Film, ja.
Es ist kein Film, die Nachrichten berichten nichts anderes und wochenlang arbeiten sich Experten ab an dem Warum, vermutlich bis heute. Ich verstehe nichts von Amerika, bis auf dass ich einige Staaten auf der Landkarte zuordnen kann, und also sage ich zu dem Grauen jetzt nicht Kluges, aber ich stehe auf Baltrum vor Gott und frage auch ihn_sie dieses: Warum. In Deinem Namen.

Schau, das Schiff. Dankbare Menschenleben, die Du gerettet hast. Die anderen auf dem Meeresgrund? Eine verblasste Inschrift auf dem Friedhof, oder nirgends. Manchmal gehe ich auf Soldatenfriedhöfe und versuche mir zumindest ein, zwei Namen zu merken, weil Vergessen fast noch schlimmer ist als ein sinnloser Tod. Es gelingt selten.

Wahrscheinlich gibt es Gott nicht, denn wie soll jemand, der soviel Sinn für Schönes besitzt und eine so großartige Natur erschafft mit all ihrer detailverliebten Perfektion, gleichzeitig soviel Grauen, soviel Hässlichkeit in der Welt zulassen können? Weil die Natur per se grausam ist, mag der aufgeklärte Geist antworten, und weil keine Schönheit ohne Hässlichkeit existieren kann, oder zumindest nähmen wir sie dann nicht als solche wahr. Der schöne Vogel frisst den schönen Schmetterling, und die Blumen verrotten irgendwann zum selben stinkenden Morast wie du und jeder, den du liebst. Und aus dem Morast wächst dann etwas neues Schönes. Und so weiter.
Ja, aber, magst du rufen, und jeder weiß, was dieses aber ist: Warum soviel Grauen in Deinem Namen?

Denk mal darüber nach, sage ich Gott und verlasse sein Haus, das jetzt leer ist, ohne mich, den zweifelnden Geist darin, und ich denke, dass Er manchmal ganz schön einsam sein muss, sofern Er nicht doch nur ein Konstrukt ist, eine jahrtausendelang und kulturübergreifend bewährte Ausrede für die Auswüchse menschlicher Grausamkeit, die sich mit nichts anderem rechtfertigen lassen als mit der, nunja, per se grausamen Natur des Homo manchmal-nicht-ganz-so-sapiens: Homo homine lupus.

Auf der Rückfahrt von Baltrum schlafe ich auf den sanft schaukelnden Wellen in der Sonne ein. Es ist so ein schöner Tag, auch wenn einem das unschöne Datum die überbordende Freude daran verbietet.
Im Langeooger Inseldorf gibt der Shantychor ein Konzert. Von Schiffbrüchigen wird gesungen, von Armut und vergeblich wartenden Matrosenmüttern. The cold arms of the deep.
Ich löffele warmes Zimtpflaumenkompott mit Vanilleeis, erneut nicht ohne schlechtes Gewissen ob solch oberflächlicher Freuden an so einem Tag, und denke an den letzten Berliner Winter: Als du es noch warst, der mir im Hafen traurige Seemannslieder sang.
Nun bin ich sicher in einem anderen Hafen, nicht schiffbrüchig, und losgebunden vom Mast.
Ich stifte Gott kein Votivschiff dafür. Aber vielleicht kaufe ich eines für die Fensterbank.

Robert Frost schrieb:

In three words I can sum up everything I have learned about life: It goes on.

Vergessen muss man ja trotzdem nicht.

R.I.P.

(Anm. d. Verf.: Das Votivschiff „Jefta“ steht in der großen ev.-luth. Kirche auf Baltrum. Ich verlegte es aus athmosphärischen Gründen aber in die Alte Kirche, welche auf den Fotos zu sehen ist.)

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