Das Weinlaub an den Friesenhäuschen leuchtet bereits so dunkelrot, dass es vor den Klinkersteinen kaum noch auszumachen wäre, gäbe es nicht auch die hübschen weißen Holzgiebel, an denen es sich dekorativ entlangschlängelt, der Sonne entgegen. Auf den Bürgersteigen wandern welke Blätter mit der unmissverständlichen Botschaft: Es istP Herbst. De facto schreiben wir den 18. September, aber es ist noch so warm, dass man das Gefühl hat, der Sommer klammere sich mit aller Gewalt an dieses Jahr wie ein Mensch an seinen abtrünnigen Geliebten.
Ich freue mich auf den Herbst. Ich mag seine Gerüche und Farben, die Zugvogelschwärme, und natürlich mag ich auch das Ende der Hauptsaison, wenn man auf der Hauptstraße wieder anständig Fahrrad fahren kann anstatt lediglich im Schneckenslalom um Touristen herumzueiern und einen die Menschen auf dem Deich wieder grüßen.
Zuhause. Noch nie gab es einen Ort, an dem ich mich in mir und mit mir so wohl gefühlt habe wie auf Langeoog, und das Schönste ist, das hier alles gerade erst anfängt, egal, wie sehr vom Lebensalter her schon Halbzeit ist.
Und so trauere ich dem dahinscheidenden Sommer nicht hinterher, sondern halte ihn lediglich für den ersten in einer Reihe von wunderbaren Sommern, die ich allesamt lieben werde.
Lieben.
Ich werde jetzt keine Kalendersprüche abseihen von der Art, dass man nur geliebt wird, wenn man sich selbst lieben lernt und so weiter — denn dazu wurden wohl schon genug kitschige Geschenkratgeber geschrieben.
Über genau so einen stolpere ich indes in der Buchhandlung auf dem Weg zum Strand. Normalerweise meide ich diese eher, da sie in der Regel zu eng und zu voll ist, aber heute schaue ich mir zumindest die Körbe mit den bunten Geschenkbüchern vor der Tür an. „Gib auf, was dich klein macht“ heißt eines; ein billig produzierter Pappband mit Spiralbindung und trutschigem Layout. — Die Art Büchlein, die einem gutmeinende Tanten oder Ergotherapeutinnen nach einer Depressionstherapie zum Abschied schenken. Ich riskiere einen Blick hinein. Ein Fragebogen, natürlich: Was mögen Sie an sich am meisten?
Lächerlich. Ich werfe das Buch verärgert zurück. Was nützt mir, was ich an mir mag, wenn du das alles Scheiße findest. Ich marschiere zügig weiter zum Meer. Das Sonnenuntergangsspektakel hat schon begonnen, und ich möchte noch einen freien Strandkorb, oder, besser noch, eine leere Schaukel.
Auf dem ipod habe ich dänische Musik. Ein Lied handelt von der Unmöglichkeit einer Liebe; von Menschen, die eigentlich gar nicht zusammenpassen, aber dennoch: Du er den jeg elsker. Letztendlich bist du es, den ich liebe. Die alte Erkenntnis also: Es ist, was es ist.
Natürlich dachte ich bei diesem Lied bislang immer an dich, aber heute denke ich: Warum bin ich das eigentlich nicht selbst?
Natürlich klingt es immer furchtbar vermessen, im Zusammenhang mit sich selbst von Liebe zu sprechen; für Menschen mit tendenziell schwachem Selbstwertgefühl ist das wohl auch zeitlebens unmöglich, aber ich schaue in den wunderbaren Sonnenuntergang und denke: Es reicht doch auch, mit sich selbst befreundet zu sein. Nett zu sich zu sein, oder sich selbst zumindest nicht beschissener zu behandeln als die Umwelt das schon zuweilen tut. Sich gut zu nähren, schön zu kleiden, aufmerksam zu sein gegenüber seinen Bedürfnissen. Wenn wir das bei anderen Freunden hinkriegen — warum misslingt das so oft bei einem selbst?
Würden wir unsere Freunde permanent kritisieren und hinterfragen, ihnen kein Eis erlauben, wenn sie gern eines hätten oder ein paar Mußeminute in der Sonne? Warum sind wir dann mit uns selbst so streng?
Ich muss besser auf mich aufpassen, denke ich, mich beschützen, wie ich einen Freund beschützen würde, egal, wie multipel das jetzt klingt.
Und wenn du jetzt also Dinge an mir hasst, die ich an mir mag, dann passen wir eben nicht zusammen, egal, was mein Hormonhaushalt dazu sagt, und es wäre nicht der erste Punkt, an dem unser Sinn für Stil getrennte Wege geht.
Der Rest ist Biochemie, und die geht, nunja, den Weg alles Irdischen, nämlich vobei. Ach, Liebe.
Aber Freundschaft: Ist sie nicht ohnehin beständiger als Liebe, mit ihrer respektvollen, aber stets verantwortungsbewussten Distanz? Nun willst du auch mein Freund nicht sein und könntest es auch gar nicht. Aber ich — kann ich mein Freund sein? Hält man sich selbst aus, wie man einen anderen aushalten würde?
Ja, denke ich, von plötzlicher Erkenntniseuphorie übermannt: Ich bin mein Freund, und ich bin glücklich, so wie ich hier stehe, das ungeschminkte Gesicht im Wind. Ich bin endlich ich selbst und alles, was ich immer sein wollte. Nein, ich bin nicht so schön, wie ich gern wäre, nicht so begabt in vielen Dingen, und ich bin niemand, den du begehrst. Aber ich mag mich. Und manchmal bin sogar ich schön. Es ist nur schade, dass du das nicht siehst.
Bullshlit, funkt der Sadist in mir dazwischen. Komm, wir machen Fotos: Beschissen siehst du aus, und alt obendrein, ein alterndes Es, und niemand liebt dich, außer deinen Eltern vielleicht, aber Eltern lieben auch Mörder, wenn’s sein muss.
Los! Erinnere dich, wie du die Ame um ihn legtest, und er sich vertrauensvoll an dich lehnte, los! Erinnere! Den Kuss in seinen weichen Nacken, das sanfte Lächeln. Damals, damals, als noch irgendwas glänzte im Verborgenen und er sich noch nicht wand in deinen Armen. Erinnere dich!
Wäre es jetzt nicht schöner, hier im Watt, barfuß, noch einmal so mit ihm zu stehen, die Reflektion der untergehenden Sonne in seinen meergrauen Augen? Seien wir doch ehrlich: Du müsstest nicht krampfhaft versuchen, dich selbst zu lieben, wenn er es noch täte! Billiger Ersatz und Selbstbeschiss ist das; ein erbärmliches Trostpflaster für die Übriggebliebenen!
Ich seufze resignierend. Nein, sage ich dem Sadisten. Nein. Es wäre nicht schöner. Es wäre nur anders. Ich versuche mir uns barfuß im Watt vorzustellen und weiß nicht einmal mehr, wie deine Füße aussehen, außer, dass sie klein sind wie meine: Vergessen ist manchmal etwas Wunderbares.
Und plötzlich fällt mir auch ein, was ich an mir am meisten mag:
Es ist die nicht totzukriegende Fähigkeit zu Träumen, trotz aller Enttäuschungen. Wie anders könnte ich sonst hier stehen? Dass ich hier bin, verdanke ich allein mir selbst — wie könnte ich da nicht mein Freund sein?
Ich denke noch ein Mal an meine Liebe und lasse den Vogel frei. Irgendwo zwischen Berlin und Langeoog, oder vielleicht auch nah der dänischen Grenze. „Birds of passage, you and me, we fly instinctively“ singen ABBA: „When all is said and done“.
Auf der Insel wird es Herbst. Vor dem letzten verglimmenden Sonnenrest steigt ein Schwarm Sanderlinge in den Himmel.