Die Regengüsse der vergangenen Nacht haben das bunte Herbstlaub an die Erde des Feldweges geheftet, und schon bald wird die vor wenigen Tagen noch im Wind tanzende, raschelnde Blätterpracht Teil dieser Erde sein, im ewigen Kreislauf von Entstehen und Vergehen, von Leben und Tod. Dazwischen graue Steine und ein wenig Moos.
Als ich mit dem Fahrrad um die Ecke biege, kann ich einem besonders großen Stein nicht mehr ausweichen und richte mich auf ein Straucheln des Vorderrades ein. Aber der Stein ist weich, als ihn das Rad berührt, und auch nicht grau, sondern schwarzweiß mit Stacheln: Ein Igel, der sich erschreckt zusammenballlt und weder vor- noch zurückweiß.
Ich bremse scharf. Auch das noch. Dass man mit einem Auto im Herbst Igel überfährt: Tragisch genug, aber mit einem Fahrrad? Ich starre die stachelige Kugel ängstlich an: Hoffentlich kommt kein Blut.
Nach ein paar Sekunden entknäult sich der knopfäugige Geselle jedoch wieder und humpelt von dannen, offenkundig nicht schwer verletzt. Ich warte schuldbewusst, bis er den Weg überquert hat und im Gebüsch verschwunden ist. Zum Glück können sogenannte primitivere Kreaturen nicht hassen; ansonsten wäre ich bei dem Tier jetzt wohl unten durch.
Was aber wäre gewesen, wenn ich ihn verletzt hätte? Wie tötet man einen Igel, wenn es denn sein muss? Ich erinnere eine andere Geschichte, kaum zwei Monate her.
Über dem Leergutlager des Hotels nisten Schwalben in der Regenrinne. Wie sehr habe ich mich darüber gefreut, bei der doch eher eintönigen Arbeit des Flaschensortierens von deren fröhlichen Tschilpen und Zwitschern umgeben zu sein, gefolgt von den ersten neugierigen Schwalbenkinderköpfchen, die aus ihrem Nest lugten, kurz vor den ersten Flugversuchen.
Und dann dieser sonnige Morgen, an dem eines tot zwischen den Kästen lag. Der Himmel strahlend blau, und hier dieser kleine Vogel, der niemals dahin aufsteigen wird, weil er sich zu früh aus dem Nest wagte. Du hättest es schön gehabt, denke ich, als ich den gefiederten Leichnam aufs Kehrblech lade, so ein wunderbarer Sommer.
Der Koch findet mich in betrübter Betrachtung. „Da drüben ist noch einer, aber der lebt noch“, sagt er, und mich schaudert. Denn natürlich trifft „lebt kaum noch“ die Sache eher. „Warum habt ihr ihn denn nicht umgebracht?“ schimpfe ich, als ich erfahre, dass sich das Tierchen dort schon seit Stunden quält und man ihn nur außer Sichtweite schob, um sein Leiden nicht mitansehen zu müssen. „Ich kann keine Tiere töten“, heißt es. „Aber leiden sehen?“ Der Koch schweigt. Mich quält letzteres mehr, und so beschließe ich, das Unvermeidliche zu tun und lasse mir den Vogel zeigen.
Es ist so ein hübsches kleines Schwälbchen. Das Gefieder schon voll ausgebildet, schleppt es sich mit gebrochenem Rückgrat über den schmutzigen Hof, von Fliegen verfolgt, die den nahen Tod riechen.
Vorsichtig nehme ich den kleinen Vogel auf, er tschilpt leise. die Kollegen umringen mich. „Geht doch weg, bitte. Niemand soll dabei zugucken“ sage ich den Leuten; sie schleichen sich ohne Widerspruch.
Es ist nicht schön, der Henker eines Lebewesens zu sein, das man lieb hat, und so streichele ich dem Schwälbchen mit einem Finger noch durchs Gefieder und murmele eine Entschuldigung, bevor ich ihn mit aller Kraft auf die Steine knalle. Stirbt bitte, flehe ich, ich will das nicht nochmal machen müssen.
Der Vogel ist tot.
Die Kollegen murmeln Bewunderndes, als ich das Tierchen zur Mülltonne trage. Als niemand hinsieht, pflücke ich eine Blume aus dem Kübel neben dem Müllhäuschen und wickele sie zusammen mit der Schwalbe in ein Papier — kurz überlegend, ob das jetzt Biomüll ist und mich zugleich für diese Überlegung scheltend: Es ist eine Beerdigung, sage ich mir, soviel Würde muss sein.
Ich klappe die Tonne zu und muss den Vogel vergessen, ebenso wie meine Schuld. Er wäre sowieso gestorben, sage ich mir. Ihn hätte auch ein Tierarzt nicht retten können. Er hätte niemals in den Himmel aufsteigen können, nicht in den irdischen zumindest.
Dennoch passt auch kein Euphemismus wie „Erlösen“ oder „Retten“. Ich habe den Vogel nicht gerettet. Ich habe ihn umgebracht, das macht mich zum Mörder. Und zwar per definitionem mehr als jene, die dem Schwalbenkind nur beim Sterben zugesehen hätten. Aber vielleicht ist es gerade das Gefühl der Schuld, das einem auch ein Stück weit Absolution erteilt? Ich weiß es nicht.
Ist im gesellschaftlichen Konsenz ein Tierarzt, der einen leidenden Hund einschläfert, schuldig, selbst wenn er dabei vielleicht gar keine Schuld mehr empfindet, sondern nur seinen Job macht, weil das Töten von Tieren nunmal leider dazugehört?
Und haben wir als Kinder nicht alle mal ausprobiert, wieviel man von einem Regenwurm abschneiden kann, ohne dass er verendet, oder so ein Tier angezündet? Und gleichzeitig ums erste alterschwach dahingeschiedene Haustier geweint?
Man macht sich wohl ständig schuldig an irgendeinem Mitwesen, und von den Menschen will ich dabei gar nicht erst anfangen.
Jetzt also auch noch der Igel, beinahe.
Im Wäschekeller sitzt eine Spinne an der Wand. Klein genug, dass ich noch ohne Schnappatmung den Raum betreten kann, aber groß genug, um mir Unbehagen zu bereiten.
Friss Mücken, sage ich dem Viech. Dann taugst du wenigstens was, wenn du schon scheiße aussiehst. Ansonsten … mein Blick gleitet zum Kehrblech mit seiner glatten, schlagfesten Unterseite.
Draußen regnet es wieder. Ein schmales Rinnsal tropft die Kellerstiege herab und breitet sich zu einer kleinen Lache. Vielleicht ertrinkt sie ja, denke ich, die warme, duftende Wäsche aus dem Trockner zerrend. Dann mache ich mir zumindest nicht die Hände schmutzig.
Ich lasse die Spinne leben.