Momentaufnahme, Weihnachtspost

Der Hund stupst gegen die Matratze und sieht mich aus großen braunen Augen an. Lass mich in Ruhe, denke ich, es ist nicht einmal hell. Aber dann guckt er so lieb und ich quäle mich raus, in Jogginghose und all dem Geschlunze, das man an anderen Leuten immer furchtbar findet, halbblind durch die stockfinstere Nacht tapernd, während der Hund zielstrebig seinen Weg findet; auf der Suche nach „Neuigkeiten“ seiner vierbeinigen Nachbarn.
Mir ist kalt, aber der Hund ist es gewöhnt; sein Herrchen muss auch immer so früh raus. Halb Sechs, denke ich, das ist doch pervers. Aber ich habe jetzt Verantwortung, also mache ich das, wenn auch nur für ein paar Tage.

Wir kehren zurück. Der Hund hat Angst vor Treppen, also ermutige ich ihn wie ein kleines Kind zu noch einer Stufe, und noch einer, und irgendwann ist er oben, und dann lobe ich ihn überschwänglich, weil er das toll gemacht hat und ein ganz tapferer, mutiger Hund ist.

Ich denke an die Stufen meines Lebens und frage mich, wer eigentlich bei mir immer derjenige war, der das sagte: Noch eine. Komm. Das schaffst du. Es ist doch nur eine Treppe. — Es waren viele.
 Etliche dieser Menschen gibt es nicht mehr in meinem Leben, aber jeder war wichtig, irgendwann. Und ich hoffe, dass auch ich das war: Für irgendjemanden, irgendwann.

Der Hund stürmt die Wohnung, die Angst vor der Treppe vergessend wie ein kleines Kind, das schon bald nach dem Sturze wieder lacht, und ich frottiere ihn in einem blauen Handtuch. Nass ist es draußen. Aber hier haben wir es warm.

Auf dem Schreibtisch liegt ein Brief. Weihnachtspost von meiner Tante. 90 wird sie, ihr Mann starb vor Kurzem. „Das Haus ist leer ohne ihn“ schreibt sie, und in all der überschwänglichen Weihnachtsfröhlichkeit um uns herum rühren mich diese ehrlichen Worte zu Tränen. Nicht jeder ist glücklich an Weihnachten. 
Ich denke an dich und schäme mich ein wenig, dass ich so lange litt unter deiner Abwesenheit, während sie einen so viel größeren Verlust zu beweinen hat. Die Tinte in meinem Füller ist fast leer, aber so einen Brief mag ich nicht mit Kugelschreiber beantworten; also trichtere ich Wasser hinein, bis es für genügend Worte reicht.
Du bist nicht allein, schreibe ich. Dein Haus ist nicht leer, solange es erfüllt ist von liebevollen Gedanken von Menschen, denen Du wichtig bist, und die Deinen Mann so gerne erinnern wie Du selbst. 
Ich kenne die Tante kaum. Vielleicht sah ich sie als Kind, aber wenn sie mir heute irgendwo draußen begegnete, auf dem Friedhof, in einem Café: Ich erkennte sie nicht. Umso mehr frage ich mich, warum sie das gerade mir schreibt, mir, einem fast Fremden: Das Haus ist so leer ohne ihn.
Es ehrt mich, und ich stelle ihren Brief ins Regal, in demütiger Dankbarkeit. 


Lasst uns froh und munter sein. O Du Fröhliche. Warum, frage ich mich. Hat Gott keine traurigen Menschen lieb an Weihnachten? Ist uns die Kälte um uns nicht umso mehr bewusst, je mehr Wärme wir in den Fenstern sehen, in Häusern, zu denen uns der Zutritt verwehrt ist?
 Du bist nicht allein, denke ich noch einmal, und hoffe, dass es die Tante irgendwie hört.



Es stinkt. Der Hund hat unter dem Schreibtisch gefurzt, und ich hasse ihn ein bisschen dafür. Aber ich bin auch nicht allein an Weihnachten, seinetwegen, und ich mag es, dass er da ist, trotz allem.
Ich denke an letztes Weihnachten. Du hattest dieses meergrüne Sweatshirt an, von dem wir zufällig feststellten, dass ich das gleiche besitze. Ich ließ meines in Berlin. 
Du hieltest das Buch in der Hand, das ich dir schenkte, Ödon von Horvaths „Jugend ohne Gott“, blättertest durch die Seiten, und ich liebte es, dich dabei anzusehen: deinen konzentrierten Blick, deine süße Nase und dein Haar, das dir beim Lesen weich in die Stirn fiel: Damals trugst du es länger als jetzt.
Dann sahst du dir auch die anderen Geschenke an, und schließlich hieltest du meine Hand, den zugeklappten Von Horvath darunter, die weiße Papiertüte mit den Geschenken zwischen uns, und ich liebte dieses Weihnachten, weil ich dich liebte: Dankeschön.

Das Jahr endet bald. Ich schließe es ohne Bilanz.
Der Hund schläft auf meinen Füßen.

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FROHE WEIHNACHTEN

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