Und dann bindet man die Krawatte ab, löst die Klammer mit dem silbernen Anker, knöpft die Weste auf und wirft die Trinkgeld-Scheine achtlos auf den Tisch.
Was ist schon Geld. Natürlich, ein Buch kann ich mir kaufen davon und ein Stück Fleisch. Ich kann der lieben Kollegin etwas kaufen, die mir das hübsche Porzellan schenkte mit dem Rotkehlchen darauf, oder sie einladen zum Tee.
Aber heute ist es mir nichts.
Kalt ist es. Der Hund schläft schon, also wird er nicht kommen und sich auf meine Füße legen, die wehtun von der Arbeit. Bieten wir unseren Gästen ein schönes Fest, sagt der Vorgesetzte, und natürlich tun wir das. Warm ist es und schön geschmückt. Wen interessiert, ob all die wächsernen Lächeln schmelzen hinter verschlossenen Türen. Lebte der Heilige Abend nicht immer schon von der Illusion? Als Kind der Glaube an den Weihnachtsmann, später der Glaube an ein Fest der Liebe, an drei Tage Waffenstillstand selbst im zerrüttetsten Gefüge: Lasst uns froh und munter sein.
Die Omas waren noch da, und man mochte ihre bunten Plastikperlenketten, auch wenn sie von Woolworth’s Wühltisch stammten. Man erinnert sein schönstes Weihnachten, als die elektrische Eisenbahn Kreise um den Baum fuhr. Den Baum, den man irgendwann auch mal umwarf, beim kläglichen Versuch, die Spitze ohne Leiter daran zustecken: Furchtbares Desaster.
All die schlimmen selbstgebastelten Geschenke, die im Keller verschwanden, bis man sie selbst vergaß.
Manchmal denke ich noch an die Eisenbahn. Die schwere schwarze Lok, die so viel schöner war als die modernen Dinger. Aber wahrscheinlich fände ich sie heute gar nicht mehr schwer, jetzt, wo meine Hand so viel größer ist als die glückliche Kinderhand, die sie damals umschloss.
Heute bin ich nur jemand, der Essen bringt.
Wie habe ich es gehasst, wenn es hieß: „Sag ein Gedicht“ oder „Spiel Klavier“. Und dann stand man am Tisch oder saß auf diesem Hocker, die schwarzweißen Unbekannten vor einem, und war unfreiwillig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sich zu Tode genierend, weil man keines wusste oder nicht übte. Aber wenn man mal etwas konnte, war es schön. Die Leute applaudierten, damals waren ja noch nicht fast alle tot. Vater las die Weihnachtsgeschichte, später auch auf Latein, und wir hörten Glenn Goulds Goldberg-Variationen oder die Brandenburgischen Konzerte.
Manchmal sangen wir zusammen ein Lied.
Natürlich war es immer das Gleiche, bis auf dass man irgendwann nicht mehr in die Kirche musste und die Omas, Opas, Onkel und Tanten der Reihe nach wegstarben. Aber man erinnert sich, und das ist gut.
Heute erinnern sich fremde Familien, wenn man an den Tisch tritt, und man stört dabei.
„Heute haben wir Matjes mit sonnengetrockneten Tomaten als Gruß aus der Küche“ sagt man beispielsweise sein Sprüchlein auf, fein gemacht und strammstehend. Aber es gibt niemanden, der zuhört: Von Applaus ganz zu schweigen.
Und am Ende gibt einem jemand diese Scheine, als Anerkennung für den Abend. Die Gäste wünschen frohes Fest.
Nach Hause sollen wir, zu unseren Familien. Aber zu Hause ist niemand. Komm mit in den Club, sagen die Kollegen. Die ganze Insel sei da, und es fallen Namen, die man mag. Aber ich will trotzdem nicht.
Zuviel Angst regt sich vor dem schlimmsten aller Gefühle, das mich paradoxerweise nur in Gesellschaft trifft: Der Einsamkeit.
Nein, denke ich. Einsamkeit ist grausam. Lieber bin ich allein, denn das ist nicht Dasselbe.
Also kehre ich heim, allein. Ich habe ein Hörbuch von dir, und so lasse ich dich mir eine Geschichte vorlesen, über den Winter auf Sylt. So habe ich wenigstens eine vertraute Stimme. Im Hintergrund knistert ein Kaminfeuer.
Es ist immer noch kalt: Auch das Feuer kommt schließlich nur vom Band.
Am klaren, nachtschwarzen Himmel prangen die Sterne in ungeahnter Pracht, und ich wünschte, ich könnte sie dir zeigen.
Das Meer rauscht in stoischer Gleichgültigkeit.