Momentaufnahme, Horizont

Es ist kalt. Ein grauer Himmel gebiert Schneeflocken, nicht kalt genug jedoch, um liegen zu bleiben. Das Weiß versinkt im Sand; anrollende Brandung verschlingt den Rest. Es ist kein Tag für Menschen am Strand. Und so geht der Mensch ins Café, wo sich andere Menschen leise unterhalten, beim Tee sitzend, aufs Meer schauend, während die Natur ein paar Dinge mit sich selbst zu klären hat. 
Unter dem windgeschützen Vordach lugen erste Krokusse aus der Erde, und so hofft man darauf, dass der eisige Schneeregen nur ein letztes Aufbäumen des Winters ist, bevor der Frühling fühlbar ein neues Jahr einläutet; die Kälte und den Schneewassergetränkten Schlamm des alten fortspülend, der Natur Farben und Nahrung bringend.

Am Horizont kämpft sich ein Frachter durch die Wogen. Warte, denke ich. Wohin fährst du? Aber dann ist er auch schon hinter dem Horizont, aus meinem Blickfeld verschwunden, und ich sitze immer noch im Café und schaue auf das gleiche Stück Meer wie vorhin.
Ich denke an Endlichkeit. Und an das Gegenteil davon. Ich mag keine beschränkten Horizonte. Eigentlich. Andererseits geben Mauern, die man selbst baut, aber auch Sicherheit. Grenzen, denke ich, sind wichtig. Selbst wenn es gesund ist, die eigenen ab und zu zu überwinden. Und man es nicht vermeiden kann, immer mal wieder den Falschen eine Einreisegenehmigung zu erteilen. Oder Flüchtende nicht aufzuhalten vermag. 
Das Meer ist so weit, aber ich sehe von hier, wo ich sitze, immer nur diesen einen Ausschnitt. So, wie man auch vom Leben anderer immer nur Ausschnitte sieht, denke ich, egal, wie sehr man sich danach sehnt, jemanden in seiner ganzen Weite zu erfassen, und wie sehr man sich davor fürchtet, diesen jemanden ziehen zu lassen.
 Wo bist du? frage ich mich, und ich sehe dich irgendwo da draußen auf diesem Frachter, das Gesicht von mir abgewandt, regennasses Haar in der Stirn; die Zigarette in klammen Fingern. Es zieht dich zu einem anderen Ufer.

Mein Vater hat heute Geburtstag, und ich liebe meine Eltern sehr; erkennt man doch oft erst als Erwachsener, wie stark Eltern ihr ganzes Leben für einen und wegen einem gewesen sind; und wie unendlich gutherzig. Immer verzeihend, uferlos in ihrer Loyalität. Man schämt sich ein bisschen für den aufsässigen Teenie, der man mal war, selbst wenn die Eltern wahrscheinlich selbst einmal solche Teenies waren. Selbst wenn sogar sie Augenblicke lang fehlbar waren: Was zählt, ist die Langstrecke. Und dann denkt man an eine Zahl — 73 — und fürchtet sich vor dem Streckenende. Es gibt Endlichkeiten, die will man sich nicht einmal vorstellen.
„Danke, Vatern“ schreibt ein Freund auf facebook, dazu ein wunderschönes Abschiedslied. Er verliert seinen Vater am selben Tag, an dem meiner gottseidank noch einmal Geburtstag feiert, und ich weiß nicht, wie ich ihm sagen soll, wie sehr mir das Leid tut. Es gibt Dinge, für die hat man keine Worte. Aber sehr viel Gefühl: Oft mehr als man will.


Ich will Endlichkeit, die Halt gibt. Aber keine Endlichkeit, die einen ins Uferlose kippt. Die einen in ein eiskaltes Meer aus brüllendem Schmerz wirft, zwischen dessen tosenden Wogen nicht einmal ein Horizont zu erahnen ist. In dem man fortwährend ertrinkt, ohne zu sterben, als sinnlos mit den Armen rudernder Sisyphos.
 Ich will nicht, dass Eltern sterben.
Das ist der Lauf der Natur, heißt es, jeder erlebt das irgendwann, bringt es hinter sich, überlebt es, es sei denn, er stürbe vor den Eltern, was man denen aber wiederum auch nicht antun will. Dennoch: Es gibt Dinge, die trotz ihrer Alltäglichkeit einfach zu brutal sind. Es gibt Dinge, die dürften nicht sein.

Und dann hört man die liebe Stimme am Telefon oder liest eine Mail und ist froh, dass es noch nicht so weit ist; dass sich wieder die erste zarte Bläue zeigt am Horizont; dazu ein goldener Streifen Sand und die sanften Hügel bewaldeter Dünen dahinter: Heimaterde. Und dann hat man wieder festen Boden unter den Füßen; frische, nährende Frühlingsluft in die Lungen saugend.

In der Pause gehe ich auf den Friedhof hinter dem Hotel, in dem ich arbeite. „Unvergessen“ steht auf einem abgeblätterten Stein, der Name kaum noch zu entziffern. Auf das mit Muschelschalen bestreute Grab hat schon lange niemand mehr Blumen gestellt. Es bricht mir das Herz. „Doch vergessen“ denke ich, und will so nicht enden.
Streut mich ins Meer, denke ich, zumindest zur Hälfte, damit ich sehen kann, was hinter dem Horizont ist. Damit es mich zu neuen Ufern spült. Die andere Hälfte geht dahin, wo ich glücklich war: Vermischt mit der Erde des Inselwaldes, wächst dann ein Baum daraus, in dem Vögel singen können. 
Und zu Lebzeiten? Zu Lebzeiten soll es genauso sein, denke ich: Man sollte immer den Mut fassen, neue Welten zu entdecken — ohne dabei zu vergessen, aus wessen Erde man wuchs.


Der Frachter ist fort. Am Himmel zeigt sich ein heller Streifen Blau. Ich bezahle den Tee und wechsele meinen Aussichtspunkt.

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