Momentaufnahme, Verlust

Die hellblaue Schere ist nicht da. Ich durchwühle die Schublade, um damit frische Kresse über mein Spiegelei zu schneiden, aber ich finde sie nicht, die einfache, billige Schere mit den himmelblauen Plastikgriffen. Dann fällt mir ein: Sie liegt in Berlin. 
Und plötzlich befällt mich eine Sehnsucht, die mich innerlich zusammensacken lässt, vor dem winzigen Herd in meiner Dienstwohnung.
Reiß dich zusammen, denke ich, das kann doch nicht sein! Sehnsucht, nach Berlin, jetzt, nach einem Jahr Langeoog, nach allem, was du immer wolltest! Aber ich vermisse meine Wohnung in Berlin plötzlich so sehr, dass ich die Leere greifen könnte; so sehr, dass ich mitten in der Nacht losrennen möchte, das nächste Schiff nehmen, den nächsten Zug, nur, um noch einmal durch die schönen, großen Räume zu streifen, um alle Schubladen aufzuziehen, die Bilder zu betrachten, und um die hellblaue Schere mitzunehmen, natürlich.

Warum hab ich diese Schere nicht mitgenommen, weine ich innerlich, warum? Als ob das wichtig wäre. Eine Schere! Ich habe drei andere davon hier, auch diese mitgenommen aus Berlin, aber eben ausgerechnet die hellblaue nicht.

Ich habe keinen Appetit mehr. Also setze ich mich aufs Bett und frage mich, was das Scherenvermissen mir mitteilen will. Du vermisst keine Schere, sagt mir mein Inneres, du vermisst das Vertraute. Du vermisst hohe, helle Räume, durch die du streifen kannst beim Denken, und deinen Garten, auch wenn du im Sommer wegen der Mücken und im Winter wegen der Kälte fast nie darin warst. Du vermisst das Grab deiner Urgroßeltern, das jetzt Fremde pflegen. Du vermisst eine Familie, hier. Und läge sie auch nur tot auf dem Friedhof. Und du vermisst ihn.

So ist das wohl, denke ich. Man kann halt nicht alles mitnehmen. Immer muss man zurücklassen. Ich muss dich lassen.

Es ist so lange her, denke ich. Und ich frage mich, ab wann ich wusste, dass ich dich verlieren würde. Ab wann ich begann, dich mit Blicken zu konservieren; mir die Krümmung jeder deiner Wimpern einzuprägen, jede Geste. Deine Zähne, Fingernägel und die Form deiner Ohren. Ab wann ich dich auf diese aufsaugende Weise anzusehen begann, nur, um noch mehr zu retten von dir; hinüberzuretten für den Moment, an dem du nicht mehr sein würdest: Nicht in meinem Leben zumindest. Und dann saß ich neben dir am Tresen, starrte auf den Leberfleck auf deinem Unterarm, den Faltenwurf deines hochgeschobenen Ärmels, und hörte deine schöne Stimme, aber keine Worte mehr.
Geh nicht, dachte ich, bleib. Dabei war ich es doch, der im Begriff war zu gehen: Ich ziehe nach Norddeutschland. Für immer.

Tschüss.
Ich liebe dich, dachte ich, und starrte auf deine kleine Hand, die ich für immer halten wollte. Ich liebe dich so sehr, dass ich nicht bleiben kann.
Die Worte fielen zwischen uns zu Boden in Zigarettenasche und verschüttetes Bier: Flensburger natürlich.
 Und dieses verdammte norddeutsche „Tschüss“ dein letztes Wort. Ich küsste dein Haar, bevor ich ging.

Ich sah dich nie wieder.

Auf der Rückfahrt von Flensburg sehe ich dich. Der Zug ist so leer wie die Landschaft zwischen den winzigen, auf irgendetwas mit -up endenden Bahnhöfen. Nichts gibt es, was die Erinnerung an dich aufhalten könnte. Ich sehe dich, als säßest du wirklich neben mir; ich fühle dich nah, deine Arme sind noch immer so warm, und ich vermisse dich mit einer Brutalität, an die ich mich nicht gewöhnen kann und nicht gewöhnen will. 
Wieder verlasse ich deine Stadt, denke ich traurig, obwohl du hier ja auch schon längst nicht mehr lebst, und frage mich, ob all das richtig war im letzten Jahr.
Krampfhaft versuche ich, an Langeoog zu denken; die Bilder von Dünen und Meer vor deines zu schieben, aber du stehst dauernd dazwischen und lachst mit dieser niedlichen, winzigen Zahnlücke zwischen deinen Schneidezähnen. Der Seewind zerzaust dein Haar und im Hintergrund kreisen Möwen über der Brandung.
Du würdest nicht mitkommen nach Langeoog.

Vergiss ihn endlich, schreie ich mein Herz an, du fährst jetzt schließlich nach Hause, dahin, wo du immer leben wolltest. Lass ihn in Flensburg! Oder von mir aus auch in diesem gottverdammten Berlin.
Der Zweifel an der Richtigkeit meiner Inselliebe hält bis kurz hinter Oldenburg. Beim Anblick ostfriesischer Weite, winziger Bahnhöfe, die auf irgendetwas mit
-um enden und eines strahlenden Himmels weiß ich wieder, dass es sein musste: Du konntest nicht hier sein. Und ich nicht dort.

Dennoch: In Berlin wartet meine Wohnung auf mich. Voller Bücher, Bilder und all der schönen Möbel. Sieben Jahre Leben. Die hellblaue Schere liegt in der Schublade.
Vielleicht komme ich wieder, denke ich. Vielleicht schleiche ich mich im Dunkeln zu deiner Bar und sehe durchs Fenster. Vielleicht höre ich dort dein Lachen.
Und dann fahre ich mit der U-Bahn zurück, schließe ich mich in der Wohnung ein und weine auf eine hellblaue Küchenschere.

Es ist besser hier, denke ich. 
Das Ei und die Kresse werfe ich in den Mülleimer.

Bildschirmfoto 2015-03-23 um 22.24.35

alte whg mit tulpen

2 Kommentare

  1. Caro sagt:

    Am Wochenende habe ich Deine „Momentaufnahmen“ gelesen – so schön! Ich mag Deinen Schreibstil und Deine Emotionalität sehr. In so vielen Dingen, die ich jetzt hier nicht alle aufführen will, finde ich mich selbst wieder und kann das, was Du schreibst, aus eigener Erfahrung heraus gut nachvollziehen. Deine Beiträge berühren und entführen mich, danke dafür! Herzlich – Caro

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    1. Vielen Dank, liebe Caro!

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