Mühsam quält sich die Rauchsäule in den heute makellos blauen Frühlingshimmel. Ich stehe an den Gleisen der Inselbahn und schaue hinab auf den Feuerplatz; nur mäßig geduldig auf eine fotogene Flamme wartend. Aber es kommt nur Rauch. Derweil hat sich die halbe Insel unterhalb der Gleise versammelt und schart sich mit unzähligen Touristen um ein paar Bier- und Würstchenbuden.
Es ist der Tag des Osterfeuers. Als weltliche Volkssitte seit 1559 erstmals bezeugt, ist das Osterfeuer mitnichten ein heidnischer Brauch, sondern geht auf die christliche Tradition zurück, gemäß derer an Ostern ein Licht in die Welt getragen werden soll; beginnend mit der Entzündung der Osterkerze in der Kirche.
Ich aber sehe nichts Erhellendes oder hoffnungsvoll Erleuchtendes da unten. Ich finde es gruselig. Muss es bei einem Autodafé nicht auch so zugegangen sein? Menschenmassen, die auf das Entzünden des Holzstoßes warten, Snackverkäufer, Volksfeststimmung? Fehlt nur noch der arme Sünder, denke ich, und mich fröstelt, nicht nur der Kälte wegen.
Ich überlege, wie lange ich wohl im Mittelalter überlebt hätte, rein unter moralischen Aspekten, d.h. die hohe Kindersterblichkeit und das Nicht-Vorhandensein von Antibiotika u.s.w einmal außen vor gelassen. Es reichte doch, irgendwie anders zu sein, denke ich. Da kannte sich jemand mit Kräuterheilkunde aus, hatte eine überdurchschnittliche Intuition, benahm sich nicht seiner gesellschaftlich aufgenötigten Rolle entsprechend, liebte jemanden, den oder die er nicht lieben durfte, war rothaarig, hatte ein Muttermal an der falschen Stelle, hinterfragte Gott, den Klerus oder die Regierung und schon … Scheiterhaufen.
Ich denke an Johannes Hus, den Vorreformator. In einem Buch las ich, dass er das „Glück“ hatte, an einer Rauchvergiftung zu sterben, anstatt qualvoll zu verbrennen. Das Schietwedder an jenem Tag war schuld: Zu windig und das Holz zu feucht. Also ein Tag wie heute. Und das Volk stand wahrscheinlich, genau wie heute, in Massen drumherum und langweilte sich, weil der Ketzer nicht brennen wollte, und letztlich nicht einmal schrie, als es so weit war, weil er schon lange vorher den Löffel abgegeben hatte und nur noch leblos in seinen Fesseln hing.
Tatsächlich ist es in einigen Gegenden noch Brauch, eine Puppe im Osterfeuer zu verbrennen; stellvertretend für den Judas. Soviel zum Weitertragen einer frohen Botschaft. Und ich frage mich, warum der Mensch, bekanntlich des Menschen Wolf, mit seinen Grausamkeiten immer alles versauen muss.
Ich indes langweile mich ebenfalls: Das Feuer brennt nicht und um den Brennplatz herum ist es zu voll. Also kehre ich um. Auf dem Rückweg treffe ich einen unserer Wattführer, ein Insel-Urgestein der ersten Stunde und außerdem ehemaliger Seemann. Auch er findet nichts Besonderes mehr am Osterfeuer, aber hin müsse man ja kurz, das sei nunmal so. Er empfiehlt mir den Weg zum Hafen, weil man dort wenigstens noch die Feuer der anderen Inseln und die auf dem Festland sehen könne, aber ich möchte nicht Samstags zum Hafen, weil diese Tradition noch zu viel Berlin in sich trägt. Das wiederum erläutere ich nicht. „Sicher“, sage ich statt dessen, „am Hafen ist immer die beste Aussicht“, und schlage die entgegengesetzte Richtung ein. Der Wattführer lacht: „Zum Hafen geht es aber da lang!“ „Ach was“ rufe ich, „bei mir ist der Hafen überall“, und denke, dass ein ehemaliger Seemann das schon verstehen wird.
Wieder anradelnd, fliegt mir fast eine Drohne ins Gesicht. Das ferngesteuerte Fluggerät hat etwas von einer mechanischen Spinne, aber ich ahne welche Freude das Ding dem in einiger Entfernung hinterher hechtenden Jungen macht, also lächele ich nachsichtig; nicht jedoch, ohne mich nochmal umzudrehen: Die Drohne fliegt jetzt vor dem Hintergrund des Osterfeuers und ich schüttele den Kopf ob dieser absurden Vereinigung von unrühmlicher Vergangenheit und unrühmlicher Zukunft.
Q.e.d.: Der Mensch war, ist und bleibt des Menschen Wolf. So ist das wohl.
Auch im Dorf ist es voll. Ich treffe eine kellnernde Freundin, die traurig ist, weil es ihr erstes Ostern ohne Familie ist. Es kann hart sein, lauter glückliche Familien bedienen zu müssen, wenn man selbst keine hat. Wenn man dem Chef frohe Ostern wünschen muss, irgendwo zwischen verschütteter Milch, anstatt die Eltern in die Arme zu nehmen und den Vater zum hundertsten Male Faust zitieren zu hören. Wenn einem niemand etwas Süßes schenkt oder mit einem Spazieren geht am Ostersonntag.
Es ist saukalt, und ich habe keine Lust auf Eis, aber die Freundin möchte eines, also gehe ich eines kaufen. Und dann stehen wir da mit unseren Schals, Wintermänteln und den Hörnchen, die auf klamme Finger tropfen.
Später im Weinladen gibt es ein Glas Champagner und schöne Gespräche. Man ist nicht allein, denke ich. Das ist gut.
Aber Ostern ist irgendwie nicht.