„Sieh es dir genau an“, sagt der Kutscher zu dem kleinen Mädchen, das hinter ihm sitzt, „sowas kennen deine Kinder später nicht mehr“.
Routiniert traben seine beiden Friesenpferde an der Telefonzelle vorbei, von der ich nicht weiß, ob sie noch funktioniert. Es ist eine der ganz alten Zellen, in Gelb, aus Zeiten, als Telefonieren noch etwas mit der Post zu tun hatte und noch nicht auf Neudeutsch und in Magenta-Silber unter T-irgendwasaufenglisch firmierte. Auf jeden Fall steht sie bei uns am Hauptbad und ab und zu öffnen noch Leute die Tür und sehen hinein.
So auch die beiden jungen Frauen, fast Teenager noch, die aufgeregt die Unterseite des in der Zelle hängenden Telefons befühlen, dann dahinter stochern, um schließlich ein panisches „Hier ist nichts!“ auszurufen. Dumm gelaufen, denke ich, vom Fahrradständer aus die Szenerie beobachtend, sind wohl die 70 Euro für’s Gramm flöten. Jetzt sucht die andere in allen Ritzen der Telefonzelle: Wieder nichts. Tja, denke ich. Obwohl: Eigentlich gar kein so blödes Versteck zur Drogenübergabe. Schließlich rennen die beiden jungen Frauen zum Mülleimer, schauen auch dort unterm Deckel, sowie in den beiden Strandkörben am Strandüberweg. Erst da werde ich der Spielanleitung in der Hand der einen gewahr und mir dämmert, dass hier keine Frauen nach Kokainbriefchen für die Nacht suchen, sondern in aller Unschuld eine Schnitzeljagd veranstalten. Wie sehr Berlin einen doch versaut! Ich schäme mich. Und denke darüber nach, wie sehr einem das gewohnte Umfeld doch die Perspektive auf Dinge verdrehen kann.
Ich erinnere diese zwielichtigen Typen in deiner Bar, die immer nur hereinkamen, um aufs Klo zu gehen, und wenig später kamen andere mit der gleichen Absicht. Die dealen da, sagtest du, und ich hatte Angst um dich, wenn du ihnen hinterhergingst. Hast du keine Angst, fragte ich dich. Aber du hattest keine Angst mehr: Routine. Und ich sah dich an, liebte, und bewunderte diesen giftgrünen oder eisgrauen Blick, mit dem du jeden unerwünschten Gast schockfrosten konntest, selbst wenn du diesem nur bis zur Schulter gingst.
Aber noch heute weiß ich, dass ich hätte töten können, wenn dir jemand wehgetan hätte. Und so saß ich da, unruhig dein Wortgefecht mit den Typen beobachtend, und denkend: Fasst meinen Mann an und ich bringe euch um.
Ist es nicht ein seltsames Phänomen, welchen Beschützerinstinkt man entwickelt, wenn man jemanden liebt: Egal, wie gut er oder sie sich selbst verteidigen könnte?
Auf jeden Fall schockiert einen im Berliner Nachtleben irgendwann nichts mehr: Über vögelnde Gestalten steigt man hinweg, bei reihernden hört man weg, bei herumliegenden guckt man kurz, ob er_sie noch lebt, und die allgegenwärtigen Kokskrümel auf Spülkästen, Deckeln und Fensterbänken nimmt man gar nicht mehr wahr, ebensowenig wie all die kleinen gefalteten Papierchen und Kratzkartenreste. Natürlich gibt es auch auf Langeoog Drogen; zumindest wurde mir das erzählt, da ich mich — der Überdosis Berlin und des Alters wegen — hier vom Nachtleben fernhalte. Aber in erster Linie wird, wie in allen Dörfern, wohl gesoffen. Und das Pulverförmige verortet man eher auf Sylt.
Ich indes brauche das alles nicht mehr: Die Insel berauscht mich genug; ebenso wie die Kunst und die Freiheit.
Und so stromere ich einmal mehr durch die Dünen oberhalb des Strandes, während sich die herabsinkende Sonne in einen silberfarbenen Priel ergießt, und gönne mir eine Dosis der schönsten Droge der Welt: Meiner Heimatinsel.
Ich bin der freieste Mensch der Welt, denke ich, dankbar die Weite des friesischen Himmels genießend. An nichts und niemanden gebunden, an keine Zeit, kein Geschlecht und keine Konvention. Wie glücklich ich doch bin! Trotz all der Momente, in denen ich meine Freiheit immer noch gern in deinen kleinen Mikrokosmos legte; in diesen warmen Kokon aus du&ich. Der Blick aus dem Taxi in der Nacht: Das Brandenburger Tor erleuchtet, und deine Hand in meiner.
Was wäre ein Nachtleben ohne dich?
Mit den letzten Strahlen der Sonne fahre ich heim. Bei Freunden sehe ich neue Fotos von dir, das Brandenburger Tor jetzt bei Tageslicht, und ich versuche mich an einer neuen Perspektive: Vielleicht, denke ich, sehen andere da nur einen kleinen Mann in den Vierzigern. Vielleicht, denke ich, ist er gar nicht so hübsch.
Aber mein Herz spielt nicht mit. Wie schön er ist, sagt es. Er ist es noch immer, scheiß auf die Jugend! Und ich weiß, dass es Recht hat.
Die Perspektive zu wechseln fällt schwer.
Ich erinnere mich an die Zeit, als ich noch Rad schlagen und einen Handstand machen konnte. Auf diese Weise fiel ein Perspektivwechsel noch leicht, denke ich. Dann nämlich stand die Welt binnen Sekunden Kopf, sofern einem das T-Shirt nicht ins Gesicht rutschte. Danach sprang man einfach zurück in die Senkrechte, mit einer eleganten Drehung im Idealfalle, und alles war wieder in geordneten Bahnen.
Aus den Augenwinkeln messe ich den Platz zum Turnen in meiner Wohnung: Vielleicht lerne ich es ja wieder.