Momentaufnahme, Selbst

„Geschlechtsumwandlungen wirken auf mich zutiefst verstörend“ schreibt ein Mann in einem Leserkommentar zu einem Artikel, und mich verstört dieser Kommentar.


In dem Artikel geht es um eine schöne Frau auf dem aktuellen Cover einer bedeutenden Mode-Illustrierten der USA. Schöne Frauen auf dem Titelblatt sind bei dieser Zeitschrift an sich nichts Neues; besondere Aufmerksamkeit erregt dieses Mal vielleicht lediglich die Tatsache, dass die abgebildete, überaus feminine und elegante Dame, bereits über 60 ist. 
Tatsächlich schaffte sie es aber auf das Cover, weil sie, früher einmal erfolgreiche Olympionikin, von der Natur ursprünglich in die Schublade „Mann“ einsortiert worden war, und es ihr gelang, nach Jahrzehnten des gesellschaftlich aufoktroyierten Männerdarstellens, dieses gesellschaftliche Korsett abzustreifen, um sich eines aus der Damen-Miederwarenabteilung anzulegen.
Und kaum jemand kann sich wohl den inneren Befreiungsschlag vorstellen, den es bedeutet, endlich einmal durch die „richtige“ Klamottenabteilung streifen zu können, ohne abschätzige Blicke zu ernten.


Auf mich wirken Arschlöcher zutiefst verstörend. Nicht die Körperteile, aber Menschen, die meinen, anderen Menschen ihren Körper diktieren zu müssen — auf Grund einer verquasten Vorstellung darüber, wer ein Mann sein darf und wer eine Frau. Und dass mensch nicht Gott spielen darf: Die Natur macht keine Fehler.

Auch in Deutschland haben wir einen ehemaligen Olympioniken, der mehrere Titelblätter zierte: Ein wahnsinnig attraktiver Mann, bei dem allein die Vorstellung vollkommen absurd ist, dass er irgendwann mal hätte als Frau leben sollen, XX-Chromosomensatz hin oder her.

Natürlich haben nicht alle Trans*personen ein so gutes Passing wie die hier Besprochenen: Aber man sieht es. 
Ich hatte einmal eine Freundin, die eine Zeitlang ihr inneres Frausein aus Verdrängung mit männlichen Stereotypen überkompensierte: Mit Vollbart, Motorradfahren, Fußball, Bier und Kumpels. Also dem, was die Gesellschaft wirklich oder vermeintlich unter „männlich“ versteht. Sie zeigte mir ein Foto aus dieser Zeit, und ich sah an ihren Augen, dass sie eine Frau ist — es immer war, und es spielt dabei keine Rolle, dass sie 1,95m groß ist und ein für Frauen verhältnismäßig breites Kreuz hat.
Die Natur macht Fehler, und ich bin dankbar, dass das deutsche Rechtssystem ebenso wie die moderne Schönheitschirurgie Mittel bietet, um hier korrigierend einzugreifen. Damit mensch endlich als der Mann oder die Frau leben darf, der_die er_sie ist.



„Geschlechtsumwandlungen können auch nur von linken Gutmenschen bejubelt werden!“ wettert der Kolumnist eines bekannten Politmagazines; auch hier dreht es sich wieder um die Frau auf dem US-Cover. 
Ums Bejubeltwerden geht es hier aber gar nicht. Und auch nicht um den vielgelobten „Mut“. Niemand würde wohl einer biologischen Frau zum „Mut“ gratulieren, wenn sie sagte „ich bin eine Frau“. Es ist auch bei allen anderen Frauen nicht mutig, sondern einfach ein Fakt.

Es geht bei der Entscheidung zur Geschlechtsangleichung um etwas viel Existenzielleres: Es geht ums Sein. Ums Leben statt ums Theaterspielen. 
Natürlich kann man episch darüber diskutieren, warum es überhaupt optische Stereotype braucht, um in der Gesellschaft als Mann oder Frau gelesen zu werden, warum man nicht einfach sagen kann: Ich bin so, und das reicht dann. Aber das überfordert wohl viele.

Indes gibt es aber auch zahlreiche positive Gegenbeispiele: Es steckt weniger Provinz in den Menschen, als man meint. Die sich nicht in ihrer Sicherheit ihres Weltbildes bedroht fühlen, wenn sie jemanden nicht sofort in eine Schublade stecken können. Für die Männer mit Vagina und Frauen mit Penis trotzdem Männer und Frauen sind und immer waren.
 Und die kapieren, dass Identität keine sexuelle Abart ist und nicht einmal etwas mit sexueller Orientierung zu tun hat.
Dass es einem Mann nichts nützt, wenn er gesellschaftlich als schöne Frau gelesen wird, wenn er nun einmal keine ist. Die kapieren, dass Erfolge, die man aufgrund einer falsch zugeschriebenen Geschlechtsidentität erringt — sei es als Model oder auch nur als vermeintliche Frau, die jeden Typen rumkriegt — keine Erfolge sind, sondern Quälerei. Weil sie einem schmerzhaft vor Augen führen, dass man der Welt etwas vorspielt und sich selbst.

Und dann steht man auf, schminkt täglich diese Schaufensterpuppe im Spiegel, leiert das alte Bühnenstück herunter und möchte sich übergeben angesichts des Applauses. Bis der Moment kommt, an dem man sich die Schminke aus dem Gesicht wischt, die Bühne verlässt und vor die Tür tritt in die Freiheit. „Jetzt bist du nicht mehr so schön“ sagen die Leute, aber es ist egal. Weil man jetzt endlich man selbst ist.
Und dann fühlt man die Sonne und den Wind auf der Haut, atmet die frische Luft, all den Duft der Blüten in einer Welt, die so lange nur aus Schlamm und grauer Nebelwand bestand und in der alle Farben nur ekelhafte Tünche waren.


Das, lieber Kommentator, ist nicht verstörend. Das ist Glück.

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