Momentaufnahme, Motor

Aus dem Watt hinter dem Seedeich stiebt eine Wolke Austernfischer, das Bauchgefieder in der Drehung silberfarben aufglänzend wie in die Luft geworfenes Glitzerkonfetti. Wirbelnd und tanzend in perfekter Formation über farbenprächtigen Weiden, auf denen Pferde grasen.
Entlang der Gleise blüht Vergissmeinnicht.
Ich drehe mich um zum Sonnenuntergang. Die Sonne bettet sich weich in türkis-goldene Wolken, die William Turner nicht vollkommener hätte malen können.

Wie schön du bist, denke ich, und meine ausnahmsweise zuerst die Insel: Langeoog.
Und da ist es wieder, dieses Gefühl, dass das Herz überquellen möchte vor Glück.
Dass man in überschäumender Euphorie einfach losrennen möchte und sicher weiß, dass man die Insel drei Mal umrunden könnte, ohne auch nur einen Hauch von Erschöpfung zu verspüren. Dieses Gefühl, dass man nicht weiß, wohin mit all der Liebe, außer: Vorwärts.
Als sei die Liebe ein Motor, der einen antreibt und über alles trägt.

Frühling sollte es sein an unserem letzten Tag. Aber es nieselte draußen und war kalt, als ich dich ein letztes Mal in den Armen hielt, Herz und Hände verzweifelt Halt suchend. Dein weiches silbernes Haar, das ein ein letztes Mal durch meine Finger glitt. Die zarte Haut deines Nackens, die ich streifte, als du mir den Rücken zuwandtest.
Für immer.
Diese Worte. Einst so schön und jetzt in vollendeter Grausamkeit:
Für immer nie wieder.

Und nun stehe ich hier mit meinem anderen „für immer“, und ich liebe diese Insel mit einer Intensität, dass ich mich frage, ob das noch normal ist.
All diese Farben. All dieses Glück.

Auf dem Flugplatz stehen die kleinen Propellermaschinen in der Abendsonne. Hineinklettern könnte ich in eine von ihnen, und den Motor starten.
Ein, zwei Stunden flöge ich bis Berlin, und dann landete ich bei dir.
Komm mit, würde ich dir sagen, ich habe noch so viel Platz. Hier und auf meiner Insel. Ich hätte noch Platz in meinem Glück.
Komm mit.

In meinem Traum strahlst du mich an, mit dieser niedlichen winzigen Zahnlücke zwischen deinen Schneidezähnen, und nimmst meine Hand und deine Tasche.

Aber du siehst mich nicht. Und so bleibe ich am Boden und studiere den Flug der Austernfischer. 
Im Wald ruft ein Kuckuck. Auf dem ipod singt jemand von der unglücklichen Liebe zu einer Cellistin, und ich weiß, wie sehr man Musik — und Musizierenden — verfallen kann:

„Komm, spiel nochmal … so schön wie früher.“
Auch Musik ist ein Motor für vieles.

Der Weg zurück führt mich am Waldrand entlang, längs eines kleinen Kanals auf watteweichem Moosboden. 
Im Gegenlicht beäugt mich neugierig ein Rehkitz.

Der Weg erinnert mich an einen Weg im Niedermoor hinter dem Berliner Haus. Man fand dort auch im Hochsommer Einsamkeit, obwohl die Flugzeuge nach Tegel im Tiefflug über die Wiesen bretterten, die ähnlich üppig blühten wie die Wiesen hier.
Manchmal sah ich dort einen stolzen Fuchs, ein majestätisches Tier, direkt an dem kleinen Holzsteg, das rote Fell kupferglänzend in der Abendsonne.

Auf Langeoog gibt es keine Füchse: Nun also dieses junge Reh.
Wie gut erinnere ich diesen Weg entlang des Zingergrabens, in dem schon mein Urgroßvater Stichlinge fing. Im Sommer wogten an seinen Ufern gelbe Lilien.
 Ich zeigte ihn dir einst: Meine Insel in Berlin. Dann gingen wir heim, du lachtest mit dieser niedlichen Zahnlücke, und ich erinnere all die Liebe, die ich fühlte: Für dich und dieses Landidyll am Rande der Großstadt.

Zwar hatte ich kein Meer dort, denke ich, von bittersüßer Wehmut übermannt — Aber einen Hafen hatte ich auch.

Das Rehkitz hat gar keine Angst. Erst als ich wirklich nah bin, macht es einen Satz in die Büsche, und ich denke, wie wundervoll die Natur hier doch ist: Nichtmal die Kitze wissen, was der Mensch für ein Raubtier ist.

Heilige Unschuld.

Im letzten Lichts des versinkenden Feuerballs, dem wir alles Leben verdanken, sehe ich die Fenster der Reithalle golden aufglänzen.
Der Kuckuck ruft noch immer aus dem Wald, und ich bedauere den armen Vogel, der ihn in gutem Glauben aufzog: nichtsahnend, dass er den Mörder seiner Kinder nährte.
Die Natur, denke ich, ist wohl doch nicht so unschuldig.

Und so greift es wohl stetig ineinander, dieses Räderwerk des Lebens. Aus Freud und Leid, Vertrauen und Täuschung, Lieben und Verlassen.
Aber es hält nicht still, denke ich.
Alles bewegt sich.

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2 Kommentare

  1. Margot S. (maja) sagt:

    Beim lesen werde ich glücklich (weil ich meine, mit auf Langeoog zu sein), fröhlich, weil wir die Insel seit dem Februar so lieben und im September wieder kommen … und melancholisch, weil man Deine Sehnsucht nachempfinden kann …
    Grüße vom Rhein

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    1. Na, dann sag ich mal: Herzlich willkommen im September! Und vielen Dank für den lieben Kommentar. 🙂

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