Momentaufnahme, Heimat (fast)

Nun also betrete ich die Wohnung, die meine sein wird, und die jetzt, beim zweiten Besuch, so viel kleiner wirkt als beim ersten. Aber dafür auch viel heller, sauberer, freundlicher.
Sicher, ein paar Sachen sind abgewetzt, aber nicht im schmuddeligen Sinne, sondern eher: abgeliebt, so, wie man es von Kuscheltieren kennt. 
Die Wohnung hat Seele, und bald schlägt mein Herz darin.
Durch helle Vorhänge füllt sanftes Spätsommerlicht den Raum.

„Mein Bett!“ präsentiert der Sohn der Noch-Eigentümerin stolz sein Kinderzimmer, und ich bringe es nicht übers Herz zu sagen: Bald nicht mehr.
Bald ziehen hier meine Bücher ein, mein Computer und ich, dein Bett wird verkauft, und dann ist dies hier mein Arbeitszimmer. Also lächele ich nur und sage: Toll.

Und so schließt sich demnächst die Tür, deren Farbe ich schon wieder vergessen habe, hinter dieser Familie, und es öffnet sich eine neue für mich.
Schon sehe ich mich Kisten packen, Möbel restaurieren und Bilder aufhängen; noch unwirklich der Moment, an dem ich das erste Mal aufwachen werde mit dem unverbauten Blick ins Pirolatal und einschlafen mit nichts als dem Rauschen des nahen Strandes und den Abendliedern der Vögel.

„Manche Menschen warten länger auf das Glück“, sagte mir einst eine ältere Dame, deren Gesicht und Namen ich vergaß, „aber es kommt. Niemand hat immer nur Pech.“ In meinem jugendlichen Fatalismus mochte ich das damals nicht glauben, aber heute denke ich: Wenn es das ist, worauf ich 39 Jahre lang warten musste, dann war das alles Warten wert.
Und schon wieder liebe ich diese Insel, bis es körperlich schmerzt; liebe ich diese Landschaft. Liebe ich dieses Leben, das ich mehr als einmal von mir werfen wollte, weil ich dachte, dass es keine Liebe darin gäbe und kein Glück; dass es kein richtiges Leben gäbe im Falschen.
Und nun ist es da: Alles. Außer dir.

Ich wische den Gedanken an dich beiseite.
ich werde hier ankommen, endgültig. Es wird einen Briefkasten geben und eine Klingel mit meinem Namen drauf anstelle der anonymen Angestelltenaufbewahrung mit der in den Flur geworfenen Post.
Ein Arbeitszimmer und einen sonnigen Platz zum Essen, auf den ich mein schönes blauweißes Geschirr aus Berlin stellen werde, das mir mit seinem vertrauten Zwiebelmuster Kindheit und Heimat zugleich ist.

„Man kann da Chrysanthemen pflanzen, mit ein bisschen Erika dazwischen“ berichte ich der Freundin begeistert vom neuen Balkon, und die macht große Augen und freut sich mit.
„Dann sitze ich dort zwischen meinen Herbstblumen in Tweed und Cord, mit einem irischen Plaid, englischem Tee und einer Zeitung, analog natürlich“ fahre ich fort, und die Freundin, die selbst immer elegant ist wie aus dem British-Shop-Katalog, grinst.
Fehlt nur noch die Pfeife, denke ich, und merke sofort, wie er sticht, der Gedanke.
Denn jetzt sehe ich dich, pfeiferauchend zwischen deinen Büchern, den schönen geerbten Gemälden und massiven alten Holzmöbeln. Mit der Pfeife und der Lesebrille siehst du wirklich aus wie ein Opa, aber irgendwie ist diese anachronistische Intellektuellenpose auch wieder sexy.

Ach pfeif drauf, sage ich mir (pun intended), sieh lieber aus dem Fenster ins Pirolatal. Sieh all das, was du mit ihm nicht hättest. Weil du mit ihm niemals gegangen wärst. Weil du mit ihm immer noch in Berlin wärst und keinen Heimathafen hättest außer seiner Liebe, und ach, wie allzu fragil das doch ist!
„Das ist die Liebe der Matrosen“ erinnere ich diesen alten Schlager, und vermutlich gilt er auch für Kapitänssprösslinge.

Der Sohn der Noch-Eigentümerin wird quengelig, also verabschiede ich mich und verlasse die Wohnung zum letzten Mal als Fremder.
Wenn ich wiederkehre, ist sie mein Hafen.

 

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