Die Zeit der Herbststürme ist gekommen.
Das Meer brüllt unter dramatischen Wolken, die aussehen, als habe sie ein lebensmüder van Gogh im letzten Wahn ans Firmament geworfen. Auf hohen Wellen taumeln zwei Kutter; ihre Positionslichter kleine, tanzende Leuchtflecken auf dem Ozean.
In der hereinbrechenden Dunkelheit vermischen sich die strahlenden Kämme der Wogen mit dem Wolkenweiß, sodass man kaum noch erkennt, wo das Meer endet und der Himmel beginnt.
Im Grunde erscheint ja ohnehin beides endlos, aber ich fühle mich nicht klein unter dem gigantischen Gewölbe. Im Gegenteil.
Hier, unter der grenzenlosen Weite des ostfriesischen Himmels, in stummer Ehrfurcht vor den Naturgewalten, hat jedes Lebewesen seinen Platz, ungeachtet gesellschaftlicher Konstrukte und Definitionen. Das Meer liebt, empfängt, gibt und tötet unterschiedslos.
Ich kann ihm deshalb nicht böse sein, selbst wenn es mir vor vielen Jahren eine Freundin nahm, die im Urlaub ertrank, vielen Seemannsfamilien ihre Lieben und Unzähligen Flüchtenden das Leben mit all der Hoffnung auf ein besseres darin.
An Tagen wie diesen lehrt die See Respekt, und das Herbstmeer ist kein Vergleich zum azurblauen Ententeich milder Hochsommerabende.
Die ersten Strandkörbe sind weggeschafft oder zugenagelt. Ich bin allein am Strand. Im nassen Sand finde ich eine große Muschelschale; sehr schön und vollkommen intakt. Ich überlege, ob ich sie einstecke, um sie zu waschen und eine Seifenschale daraus zu machen oder so etwas, aber dann dämmert mir, dass jede Allerweltskneipe mit maritimem Einschlag solche Seifenschalen hat, und ich beschließe, die Muschel dem Meer zurückzugeben.
Im Weitwurf war ich schon immer mies, also wage ich mich weit vor in die tosende Brandung und schleudere die Muschelschale von mir: Wie erwartet, fällt sie nicht weit, und die darüber brechende Welle verschlingt sie gleich.
So viele Seelen da draußen, denke ich, und ich denke an die Freundin, Carina, an dich, und an das Lied von dem toten Seemann.
Schäumt auch die Meeresfläche wild
Gedanken formen doch ein Bild aus seiner Seele
Unter grauen Wolken ziehen Vögel in lautloser Formation. Die im Licht eines fast perfekten Halbmondes inzwischen schon gespenstisch weiß beleuchtete Gischt ermahnt mich zur Umkehr: Zu schnell wird es Nacht auf der Insel.
Ich habe es jetzt nicht mehr weit bis nach Hause.
Von den Tannenwipfeln, rings um den Dünenfriedhof mit dem Grab Lale Andersens, kommt kein Laut mehr: Die dort zahlreich anzutreffenden Wildtauben schlafen. Auch der Sonnenhof, das frühere Wohnhaus der Sängerin (heute eine Luxus-Ferienwohnung), ruht in sanftem Laternenlicht.
In einem der Nachbarhäuser spielt jemand Klavier, oder, dem vollen Klang nach, noch eher Flügel.
Ich erinnere, dass das ein Jugendtraum meiner Schwester war: Ein Erkerzimmer mit Flügel. Ich wollte schon immer lieber eine Bibliothek; fürs Klavierspielen war ich vollkommen unbegabt. Auch dein Klavier staubt vor sich hin, und ich habe mich immer gefragt, warum ein so musikalischer Mensch wie du nicht darauf spielt, aber du willst nicht mehr spielen, und so steht es herum zwischen Wäscheschränken und alter Seekiste mit Zeug.
Es reicht ja auch, wenn du singst, denke ich, und ich werde traurig bei der Erinnerung an den rauen, warmen Klang deiner Stimme. Sie würde so gut zu einem Abend wie diesem passen, der noch sommerlich mild ist, aber durchzogen von allen Vorboten kommender Sturmzeit. Ich liebte all die Facetten darin.
Und eher, denke ich, vergesse ich sein Gesicht als diese Stimme.
Sing.
Auf dem Dach meines Wohnhauses versammeln sich Krähen. Aber auch sie — ohnehin keine begabten Musiker — ziehen es vor, heute Nacht zu schweigen.