„Wo kommt dein Nachname eigentlich her“, fragt der Seemann, eines der Drei-Streifen-Hörnchen auf der Fähre, also jemand Hochrangiges. Ich freue mich, dass angesichts all der Fahrgastmassen jemand aus der Besatzung ein persönliches Wort an mich richtet, und so gebe ich bereitwillig Auskunft: „Ostpreußen“ sage ich. „Ah“, nickt der Mann, als sei das vollkommen klar, und so frage ich zurück, ob er denn auch ostpreußische Vorfahren hätte. „Nein, meine kommen direkt von der dänischen Grenze. Seit Ewigkeiten.“ Ich spitze die Ohren. „Flensburg“ rufe ich mehr aus, als dass ich es frage, und er nickt erneut und sagt „ja, Flensburg“. Die goldenen Streifen glänzen auf seiner Uniform.
In meinem Gehirn rotieren statistische Überlegungen, während ich, wie fast alle Insulaner, direkt im Roten Salon unter Deck verschwinde, weil es da immer am ruhigsten ist. Morgens liegen dort die Schulkinder auf den Bänken und schlafen oder schreiben noch schnell bei jemandem die Hausaufgaben ab.
Der Mann ist also Seemann aus Flensburg, denke ich. Möglicherweise hat auch er einen Sohn. Und sicherlich ist er da nicht der Einzige. Vielleicht ist in einer Stadt mit einem großen Hafen, wo zudem noch Marine ausgebildet wird, die Wahrscheinlichkeit gar nicht so klein, dass man auf Seemannssöhne trifft. Von denen einige wiederum grünblaugraue Augen haben und das passende Alter dazu. Und vielleicht, denke ich weiter, kann einer davon sogar singen. Also, rechne ich mir selbst vor, bist du gar nichts Besonderes: Einer von vielen.
Zufrieden mit dieser Schlussfolgerung begebe ich mich aufs Achterdeck, das entrüstete „Ja, aber!“ meines Herzens geflissentlich ignorierend. Gischt schäumt, ein Matrose im Blaumann sortiert Taue. Am Horizont Kutter und Frachter. Schau, besteche ich mich weiter: Überall Schiffe.
Andere Kapitäne haben auch schöne Söhne.
Nein, meutert das Herz erneut, dieses Mal unüberhörbar.
Hör dir doch selbst nur mal zu, schimpft es, das funktioniert so nicht! Kein Mensch ist ersetzbar. Selbst wenn du jemanden fändest, der genauso redet wie er, genauso aussieht wie er, vielleicht noch am selben Tag Geburtstag hat: Er wäre nicht er. Und du würdest diesen armen Menschen nicht um seiner selbst willen lieben, sondern nur wegen der Ähnlichkeit und ihn für alles hassen, was dich daran erinnert, dass er eben nicht er ist. Das funktioniert nicht.
Du hast ja Recht, gebe ich mir selbst klein bei, und fühle mich schlecht. Ich sehe den Matrosen an, der weiter irgendetwas macht, von dem ich leider keine Ahnung habe, und frage mich, was er wohl für individuelle Talente und Eigenschaften hat.
Vielleicht singt er nicht schön, aber kennt sich dafür mit anderen Sachen aus, vielleicht … Ich lasse den Gedanken fallen.
Man muss aufhören, zu vergleichen. Solange man noch vergleicht, liebt man nicht.
Irgendwann, denke ich, finde ich jemanden, den ich wieder so lieben kann wie dich, und ich frage mich, ob ich eigentlich überhaupt noch Sehnsucht nach dir habe oder nur nach diesem Gefühl.
Zurück auf der Insel richte ich mit den Festlandseinkäufen weiter die neue Wohnung ein: Noch mehr Langeoog, noch weniger Berlin. Noch mehr Endgültigkeit in der Sache, dass es kein du und ich in diesem Leben mehr geben wird. Wenn die Wohnung abbezahlt ist, bin ich sechzig.
Ich bleibe hier.
Die vom Licht später Sonne vergoldeten Dünen locken mich noch einmal ins Freie. Aus den Salzweisen stiebt ein Schwarm Stare. In der Weite des graubraunen, glitzernden Watts fressen sich Silbermöwen für den Winter dick.
Im Winter muss ich wieder nach Berlin.
Berliner Winter sind grausam. Es ist entsetzlich kalt und dauernd verendet die Bahn. Schon sehe ich mich im Wollmantel fluchend durch graue Schneemassen von Haltestelle zu Haltestelle schlittern; mit nassen Füßen und eisigen Fingern, bis ich dann irgendwann zu Hause bin: Im Fast-Ex-Zuhause. Zwischen Kartons hocken werde ich dann, und die Wohnung, gerade noch voller Bücher und Briefe, wird mir fremder werden mit jedem geleerten Regal. Sicher werden mir aus den Bücherregalen und Schubladen Postkarten entgegenfallen, Restaurantrechnungen, Fotos, Eintrittskarten vom Theater, und ich werde, Gesichter und Lachen und Küsse erinnernd, denken: Ach ja.
Dann verpacke ich mein Leben: Ein Teil Dachboden, ein Teil Langeoog.
Eine halbe Stunde U-Bahnfahrt entfernt stehst du und singst von Sehnsucht und dem Meer. Vor dem Fenster fällt Schnee.
Wie gern würde ich die Tür aufziehen, hineintreten in die Wärme, und dir zuhören. Wie gerne brächte ich das Meer zu dir.
Abschied schmerzt.
Auf dem Weg zum Strandaufgang kommt mir die ehemalige Erste Offizierin unseres Ausflugsdampfers entgegen. Sie schiebt den Kinderwagen mit ihrem Neugeborenen. Wie schön, denke ich, jetzt gibt es sogar ein Kind, das später einmal sagen kann: Meine Mama ist Kapitän!
Ich frage nicht, ob es ein Junge ist.