Ein neues Leben hat seinen Preis. Mein Preis steht zwischen Koffern in der Empfangshalle und lacht. Er sagt etwas zu der sympathischen Frau, die ihn begleitet, und ich denke: Die ist doch genau dein Typ, wie immer, und ich freue mich, dass er gesund aussieht und offenbar glücklich ist.
Er hat sich kaum verändert, und ich erkenne die Augen und das Lachen, bevor ich den Namen höre.
Ich sage nichts. Und so begrüße und sieze ich den Mann, der mich nicht wiedererkennt, wie man eben Gäste begrüßt und zeige ihm sein Zimmer.
Später heule ich in den Abwasch.
Mensch, denke ich, wie schön, dich zu sehen. Spielst du noch Klarinette? Und was macht die Malerei, ich glaube, du hast auch gemalt damals, ich bin mir recht sicher.
Farben hatte ich dir geschickt, aus China, die waren aus dem Künstlerviertel Fu zi miao. Und CDs hast du noch von mir, du Sauhund, R.E.M. und Kristin Hersh; ich bekam sie nie wieder, damals, als du fortzogst.
Ich hatte sie längst vergessen.
Und plötzlich ist alles wieder da, und ich dort, wo ich mal war, vor fünfzehn Jahren. Das alte Leben starrt mich an, und ich kann nichts tun, außer das auszuhalten, mit weichen Knien geklammert an dieses Spülbecken.
Zum Glück trage ich kein Namensschild hier, denke ich, und wünsche mir einmal mehr, einen weniger seltenen Nachnamen zu haben.
„Möchten Sie noch Kaffee“, werde ich morgen den Mann fragen, und dabei längst wissen, dass er Milch reingießt.
Die Tür ist zu.
Hinter der Tür hängt ein Spiegel, und mir fällt der Titelsong aus „Mulan“ ein: „Wann zeigt mir mein Spiegelbild, wer ich wirklich bin?“ „Jetzt“ denke ich, und bin zufrieden mit dem, was ich sehe. Vor fünfzehn Jahren dachte ich das nicht.
Aber alles hat seinen Preis: Selbst die unbezahlbare Freiheit, man selbst zu sein.
Natürlich ist der Film furchtbar verkitscht; der echten Hua Mulan haben sie den Kopf abgehauen, als sie enttarnt wurde, der chinesischen Jeanne D’Arc, meine Geschichtsdozentin in Nanjing erzählte davon; lange, bevor sich Disney des Themas annahm.
Auch das ist sehr lange her. Aber ein paar Dinge erinnere ich: Den Eisvogel, der über den Teich auf dem Campus der Nanjing shifan daxue schoss. Ich hatte vorher noch nie einen gesehen, und schrieb ein grauenhaft kitschiges Gedicht darüber, welches ich meinem damaligen Lebensgefährten schickte.
Ich erinnere die schöne Freundin, die mich auf dem Gepäckträger durch die Stadt karrte, weil ich kein eigenes Fahrrad hatte. Ich erfuhr, dass Kakerlaken stinken. Ich erinnere die abblätternde Farbe an der Wand mit dem Telefon, vor der ich zusammensackte, als ich vom Tod des Großvaters erfuhr. Mein letzter Brief an ihn war zurückgekommen, weil eine Büroklammer darin war. Gegenstände aus Metall durfte man nicht verschicken, ich wusste das nicht. Ohne die Klammer hätte ihn der Brief noch erreicht. Die verdammte Büroklammer.
Dann saß der alte japanische Lehrer neben mir, in seinem braunen Sakko. „Wo yeye qu shi le“ sagte ich, Tränen in seinen Ärmel tropfend, und er tröstete mich mit japanischen Worten, die ich nicht verstand, und einer Güte, die keine Worte brauchte.
Ich lernte Papierkraniche falten und Kalligraphie. Im Frühjahr saß ein bildhübscher Russe unter meinem Fenster und las, während die Blüten des Winterpflaumenbaums auf sein glänzendes, blondes Haar fielen. Sein Name war Sascha und er hatte die schönsten Wangenknochen der Welt.
Und überhaupt, die Pflaumenbäume. Im Winter Schnee auf den Palmen und im Sommer der Duft der Gui hua Bäume. Es ist immer noch mein Lieblingsduft.
Die Stechuhr fiept, als ich meine Karte davor halte: Es ist sinnlos, ich kann so nicht arbeiten. Auf dem Rückweg von der Uhr zur Küche lausche ich auf dem Flur. Der Mann ist nicht da.
Die bunten Erinnerungsfetzen rieseln jetzt nicht mehr blütengleich herab: Es ist ein Platzregen, gepaart mit Sturmböen, die wirbelnd durch die Rinnsteine meines Innersten fegen; jede Konzentration zerstreuend.
Später.
Jetzt bin ich hier, denke ich, als ich die Wohnung aufschließe. Das ist mein Zuhause. Nanjing ist Vergangenheit, alles andere und München sowieso, sogar Berlin, ach, Berlin.
Man kann nicht alles und jeden mitnehmen, und in den meisten Fällen ist das auch gut so.
Aber einigen Menschen würde man gerne nochmal durchs Fenster winken.
Oder sie Klarinette spielen hören.