Momentaufnahme, Letzter Abend

Die bunten Lichter der Stadt ziehen am Straßenbahnfenster vorbei. An der Haltestelle, wo ich früher immer zu dir umstieg, wartet eine junge Frau. Sie hat ein bildschönes Gesicht mit dunkelblauen, verträumten Augen; in dem blonden, geflochtenen Zopf auf ihren Schultern und auf ihrer weinroten Strickmütze sammeln sich Schneeflocken. Ich überlege, ob ich sie lieb haben könnte; es wäre doch alles so viel einfacher mit einer Freundin und ohne dich.
Aber Schönheit, Weiblichkeit und Jugend sind stumpfe Waffen im Kampf gegen meine Liebe: Ich will ja doch nur diesen kleinen, grauhaarigen Mann.

Die ganze Straßenbahnfahrt lang spähe ich nach dir, deiner Silhouette und dem vertrauten Gang, obwohl ich weiß, dass du längst bei der Arbeit bist und hier nicht herumlaufen kannst. Ich recke den Hals nach dem Dach deines Hauses, obwohl ich weiß, dass man es von hier aus nicht sehen kann. Und dennoch sehe ich es: Den Hof, dein Küchenfenster, das jetzt dunkel ist, dein ordentlich gemachtes Bett.
In der Küche deine Kaffeetasse in Friesisch Blau, auf dem Herd irgendein Rest zu essen, für später, wenn du heimkommst. Wie gern würde ich dort auf dich warten.
200 Jahre Emanzipationsbewegung und dann das, denke ich wütend, aber ich kann meine Gefühle nicht ändern.
Mich befällt eine Sehnsucht nach Leinen und warmer Haut. Ich sehe, wie du auf dem Sofa sitzt und rauchst; mit dem Anbruch der Morgendämmerung kehrt auch das Blau in deine jetzt noch dunkelgrauen Augen zurück.
Ich beneide die Zigarette zwischen deinen Lippen. Und wie gerne hörte ich noch einmal diesen Satz: Komm. Wir fahren nach Hause.

Irgendwelche Menschen fallen neben mir in die Bahn, zusammen mit einem Schwall nasskalter Luft. Rascheln. Plappern. Gelächter. Fremdsprachen. Irgendwo besoffenes Gelalle. Ich nehme nichts davon wirklich wahr.
Ich erinnere den Weg zu dir und wie ich jede Haltestelle, jeden Pflasterstein und jedes Schaufenster zählte. Schmelzender Schnee lief in meinen Kragen und die Schuhe. Ungemütlich war es draußen. Aber drinnen wartete die Wärme deiner Arme, der rettende Hafen vor den Stürmen der Nacht.

Heute habe ich ein anderes Ziel. Ein anderer Freund wartet. Ich mag ihn sehr gerne, und es dauert mich, dass er für mein verdammtes Herz trotzdem nur Plan B ist. Du stehst am anderen Ende der Stadt und singst. Ich erzähle dem Freund von dir, und bin froh, dass ich das darf, weil ich sonst implodiere vor lauter Gefühl.
Ich vermisse ihn noch immer.
Es tut gut, das aussprechen zu dürfen. Vor jemandem, der das versteht. Er sieht sich Fotos von dir an: Ein schöner Mann, zweifelsohne. Und erst seine Stimme, sage ich. Du müsstest hören, wie schön er singt!
Ich werde das nicht mehr hören, nicht live zumindest. Aber ich wünschte, ich könnte genau jetzt eine Pipeline zu dir legen, mit all diesem Gefühl darin. Ich wünschte, du sängest in meinen Worten über die Liebe. Aber vielleicht singst du auch gerade nur von der Reeperbahn, nachts um halb eins.

Unsere Pints sind leer. Es wird Zeit für den Heimweg. Ich befehle Stolz und Würde das Kommando über meinen Körper und Geist, damit keiner davon noch Umwege einschlägt, und so lande ich schließlich artig Zuhause.
Auch du bist jetzt sicher schon beim Aftershowschnaps, und mir bleibt
nur die Hoffnung, dass du heute alleine nach Hause fährst.

In der Wohnung streife ich ein letztes Mal durch die Räume mit den gestapelten Umzugskästen und den prallen Müllsäcken. So viele Dinge, die einem irgendwann einmal etwas bedeuteten. Hinter dem Sofa und den Regalen liegen noch Papiere, Büroklammern, Staubmäuse und Bierdeckel mit Telefonnummern von Menschen, an die ich mich nicht erinnere. Vorbei.
Vor dem Fenster wiegt sich der Walnussbaum, auf dem tagsüber Eichhörnchen, Eichelhäher, Spechte und Elstern durch die Zweige toben. Ich mochte den Anblick. Nächsten Monat sieht aus dem Fenster ein Fremder.
Tschüss, sage ich leise, als ich den Schlüssel in den Briefkasten der Hausverwaltung werfe. Tschüss Walnussbaum. Tschüss Stadt. Es war auch dein letztes Wort an mich damals: Tschüss.
Ich sagte darauf nichts mehr.
Nur die Liebe weigert sich immer noch, zu schweigen.

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