Die Luft ist schon mild, aber die seit Tagen an Mensch und Haus zerrenden Sturmböen gehen mir langsam auf die Nerven. Waagerecht fliegender Regen sprüht in meine Ohren und als kaltfeuchte Salve direkt aufs Trommelfell; ein ekelhaftes Gefühl. Ich schüttele fröstelnd den Kopf, um das Wasser im Gehörgang zu verteilen. In der Ferne brüllt die See wie ein verwundetes Tier. Nur schnell wieder heim, denke ich, und offenbar sieht das halb Langeoog genauso. Kaum jemand ist unterwegs; ein paar frustrierte Touristen lehnen sich gegen den Wind, unterwegs von A nach B. Die anderen sitzen in den Cafés. In einer Ferienwohnung schreit jemand seine vor Langeweile quengelnden Kinder an. Handwerker strampeln sich auf ihren Rädern ab, in den angekoppelten Wippen Werkzeug und festgezurrte Leitern.
Zum Glück habe ich heute frei, denke ich, die Arbeiter mitleidig betrachtend. Aber morgen werde ich wieder vom Firmen-Büro aus Leuten ihren Sommerurlaub verkaufen, die nach Terrassen in Südlage fragen und dem kürzesten Weg zum Strand. Wie weit entfernt scheint noch dieses sommerliche Langeoog! Und dennoch: Juli und August sind schon jetzt beinahe ausgebucht.
Daheim verschanze ich mich im warmen Arbeitszimmer.
Es ist der 21. Februar 2016.
Mein Vater schreibt: Heute vor 100 Jahren begann der deutsche Angriff auf Verdun, Artilleriefeuer seit 7:15 morgens aus 1200 Geschützen, bis 17 Uhr nachmittags. Der Beginn unfassbaren Leids. Der Beginn unfassbar sinnlosen Mordens. Der Beginn industrieller Vernichtung von Leben für irgendeine absurde Idee von Macht.
Es ist ein bisschen eigenartig, dass ein 1942 geborener Mann von der Gnade der späten Geburt erzählt, obwohl doch bei seiner Geburt Fliegeralarm durch ein in Trümmern liegendes Gelsenkirchen heulte; noch volle 3 Jahre lang.
Aber damals war er ja tatsächlich noch zu klein, um das Grauen zu begreifen ― inwiefern die Generation meines Vaters oder sogar meine noch von den Kriegstraumata der Eltern und Großeltern geprägt wird, steht natürlich auf einem anderen Blatt.
Jedenfalls beschränkt sich die Militärerfahrung meines Vaters ― Gott sei es gedankt ― letztlich auf Panzerfahren in Schwanewede und Wales zu Friedenszeiten und meine auf das Anschmachten schöner Matrosen in Uniform. Dennoch interessieren wir uns für Kriege und ihre Geschichte; für die morbide Ästhetik von Soldatenfriedhöfen, die demütig stimmende und gleichzeitig majestätische Architektur von Ehrenmälern. Und natürlich interessiert uns die damit verbundene Geschichte unserer Vorfahren.
Heute also Verdun.
Von unseren Verwandten starb dort niemand; die wurden 1916 auf anderen Schlachtfeldern erschossen oder gingen mit Schiffen unter. Auch die Skagerrakschlacht jährt sich dieses Jahr zum hundertsten Male und mit ihr der Tod des Schriftstellers Gorch Fock, der am 1. Juni 1916 um vier Uhr morgens mit dem Kleinen Kreuzer SMS Wiesbaden versank.
Nun schiebe ich mich im Sauwetter eines 21. Februar durch die verlassenen Straßen eines ostfriesischen Inseldorfes und denke 100 Jahre zurück, als das Wetter noch das geringste Problem der Menschen war. Als man sich nicht vor dem Regen in ein warmes Zuhause retten konnte, sondern bis zum Bauch im kalten Schlamm eines von Verwesungsgestank durchwaberten Schützengrabens stand, während neben einem Ratten an den toten Kameraden nagten. An 15- oder 16jährigen Jungs, die heute in beheizten Wohnzimmern vor der Playstation hängen würden. An jungen Männern, wie jenen, die heute Verachtung und Hass über andere junge Männer schütten, die vor dem Krieg fliehen, vor dem sinnlosem Morden. Vor dem sinnlosem Leid aufgrund irgendeiner absurden Ideologie.
Ich denke an den kommenden ersten Juni und daran, wie vielen Müttern ich bis dahin noch beibringen muss, dass ich keine Ferienwohnung mehr frei habe, egal wie sehr sich ihre Kinder schon auf den Strand gefreut haben. Dann denke ich an den ersten Juni vor 100 Jahren und an den Marinepfarrer, der so vielen Müttern beibringen musste, dass ihr Kind angespült wurde an irgendeinem Strand, oder vielleicht auch nur seine Matrosenmütze, die blauen Bänder verheddert im Tang, und auf dem ehemals weißen, jetzt schlamm- und blutbefleckten Schild, steht „SMS Wiesbaden“ oder „SMS Rostock“ in goldenen Buchstaben.
Erleichtert aufatmen möchte ich darüber, dass es uns doch heute so gottverdammt gut geht mit all unseren Luxusproblemen in all unserem Frieden und Wohlstand, bis mir dämmert, dass auch heute noch Kinder tot an Stränden angespült werden. Dass weinende Väter ihre Babies durch Stacheldrahtzäune reichen, um wenigstens einem von ihnen ein Leben ohne Krieg zu ermöglichen. Väter, die statt einer Heimat nur noch ein staubiges, zertrümmertes Nichts haben, während auf den Ruinen irgendwelche Wahnsinnigen mit ihren hässlichen Fahnen triumphieren.
Dass immer noch Menschen so leiden, in einer Generation, die den Krieg eigentlich nur noch aus Geschichtsbüchern kennen sollte oder schlimmstenfalls noch aus Erzählungen der Großeltern.
Warum lernt die Welt nichts, möchte man schreien, warum muss man auch 100 Jahre später noch solche Bilder ertragen, warum bekommt man Bilder von Enthauptungen, die man bis vor Kurzem nur als Gemälde von der französischen Revolution kannte, auf einmal ungefragt in Farbe und als Foto vor den Latz geknallt, von einer Hinrichtungsart, die eigentlich vor der Erfindung der Fotografie schon längst hätte ausgerottet sein sollen? Warum werden Jungs, die sogar meine Kinder sein könnten, von Hochhäusern geworfen, weil sie schwul sind, warum hacken Männer, die so alt sind wie ich, weißbärtigen Männern den Kopf ab, die ihre eigenen Väter sein könnten? Und warum zünden hier, im vermeintlich sicheren Deutschland, Menschen, die im Alltag harmlos lächelnde Sparkassenberater oder Pensionswirtin sind, Unterkünfte von Menschen an, die vor genau diesem Albtraum abhauen, nur weil vielleicht ein paar bösartige Maulwürfe darunter sein könnten? Warum fordern Menschen aus einem Teil Deutschlands, in dem bis 1989 Flüchtende erschossen wurden, dass man Flüchtende wieder erschießen darf? Warum wird ein zweistelliger Prozentsatz von Menschen in Deutschland wieder eine Partei wählen, die, als nur eine von vielen menschenverachtenden Sauereien, Homosexuelle zählen lassen will?
Ich werde wahnsinnig vom Nachdenken über diese Dinge, und darüber, dass ich als 1976 Geborener überhaupt noch darüber nachdenken muss. Und dann sehe ich aus dem Fenster und die Insel liegt vor mir in all der Unschuld ihres Idyllischen Hier und Jetzt, obwohl natürlich auch unser Langeoog dunkle Flecken im Geschichtsbuch hat: Zerschundene Kriegsgefangene und bösartige Faschisten gab es auch hier.
Aber jetzt ist es ruhig. Draußen spricht keine Menschenseele. Der Fahnenmast, an dem keine Flagge mehr weht, singt leise im Wind. Niemand marschiert. Niemand, der schreit. Keine Eltern, die trauern. Im Nachbargarten blühen dicke Bündel von Schneeglöckchen; deren Weiß strahlend und unbesudelt.
Nur das Meer brüllt vor Schmerz um all die Seelen.
R.I.P.
Bild (c) tourisme-verdun.fr