„Tschüss, Langeoog!“ singen die Kinder in der Inselbahn, „Tschü-hüss Laange-oog!“, und ich denke, dass es für mich der absolute Albtraum wäre, der Insel jetzt Lebewohl sagen zu müssen, für immer, oder auch nur für ungewisse Zeit. An vertrauten Weiden und Wiesen rattert die Bahn vorbei; inzwischen weiß man, wer alles so wohnt in den Häusern längs der Gleise, und auf dem Ausflugsschiff am Kai hält man nicht länger Ausschau nach dem hübschen Steuermann, weil man längst weiß, dass er in diesem Jahr nicht wiederkommt.
Ich werde dich niemals verlassen, denke ich voller Inbrunst, bevor ich die Fähre betrete, und dieses Mal meine ich die Insel, nicht dich.
Das Schiff ist sehr voll, und so ziehe ich mich in den unteren Salon zurück, der meistens sehr ruhig, weil von den Gästen unentdeckt, ist und damit das reinste Insulanernest. Aus den Bullaugen kann man hier unten im Sitzen nicht sehen, und so höre ich nur am Motorengeräusch, dass die Fähre längst Fahrt macht. Wie weh taten mir immer die Abschiede als Tourist! Die ganze Strecke über hätte man weinen mögen vor Abschiedsschmerz, und wieder am Wohnort angekommen, kratzte man alles Geld zusammen, um möglichst schnell wiederkehren zu können: Dorthin, wo das Herz schlug. Dorthin, wo man lebte.
Ein einziges Mal nur war mir der Abschied von Langeoog erträglich: Als ich wusste, dass du in Berlin auf mich wartest. Als mich noch Hoffnung nährte, das nächste Mal wiederkehren zu können mit dir. Als ich noch hoffte, dich dorthin zurück bringen zu können, wo du geboren wurdest: Ans Meer.
Kann man das Meer wohl je aus jemandes Blut spülen? Ich hege da Zweifel.
Der Hafen von Bensersiel kommt in Sicht und mit ihm das kleine Café am Yachthafen mit seiner Dachterrasse. Ich erinnere, eine sonnige Stunde dort mit meiner Mutter verbracht zu haben, was eine schöne Zeit war, da man meine Mutter selten losgelöst von häuslichen Verpflichtungen irgendwo für sich allein hat. So aber klingelten die Eiswürfel in unseren Gin and Tonics, während Masten im Wind sangen und Meer und Möwen dazu erzählten. Vermisst du das nicht, fragte ich meine Mutter, immerhin eine gebürtige Niedersächsin. Du musst das doch im Blut haben, als einzige echte Norddeutsche unserer Familie. Natürlich fehlt mir das, sagte sie, das hier: das bin ich. Und wenn ich könnte, würde ich hier auch wohnen.
Ich hatte dem nichts hinzuzufügen. Sicher spielt dein Vater in diesem Moment im Himmel für uns Akkordeon, sagte ich nur, und wir hörten seine Musik durch die Masten der Segelboote.
Mir wird wunderbar friedlich zumute, als ich die Dachterasse des Cafés vom Panoramadeck aus näherkommen sehe. So viele schöne Erinnerungen. So viele sanfte Tage, hier oben, an der See.
Die Ankunft wird eher unsanft. Die Betontreppe am Anleger ist schwarz vor Menschen. Kopf an Kopf reiht sich, dazwischen wuseln Kinder und Hunde und all diese Menschen wollen nach Langeoog.
Als ich noch im Hotel arbeitete, suchte ich oft diese Menschenmenge nach potentiellen Arschlöchern ab. Nach solchen Gästen, die mir das Leben im Paradies zur Hölle machen würden. Nach Gästen, die sich an der Rezeption vor mir aufbauten und laut zu ihren Kindern sagten: Siehst du, deshalb ist es wichtig, dass du in der Schule was lernst, sonst musst du auch mal so einen Job machen. Gäste, die den Unterschied zwischen Leibeigenschaft und Dienstleistung nicht begriffen, den ganzen Aufenthalt über mit ihrem Geld und ihren Titeln protzten, um am Ende dann doch alles billiger haben zu wollen. Gäste, die einen beim längst überfälligen Abschließen der Bar zusammenbrüllten, dass man gefälligst zu öffnen habe, wenn sie etwas trinken möchten, egal, wie spät es sei. Gäste, bei deren gruß-, dank- und trinkgeldlosem Verschwinden man mehr als einmal in Gedanken ein „bloß nicht“ ans „Auf Wiedersehen“ hängte.
Vorbei, denke ich aufatmend, und versuche mir dafür die vielen netten Gäste ins Gedächtnis zu rufen, von denen mir zwei bei einer Zufallsbegegnung in Wilhelmshaven erst kürzlich noch fröhlich um den Hals fielen: Auch die gab es, Gottseidank.
Im Bus nach Esens löse ich eine Hin- und Rückfahrt und bin so glücklich, dass es kein one way ticket mehr ist.
Ich gehöre hier hin, denke ich euphorisch, während sich die Morgensonne zwischen die Osterglocken in den Vorgärten schiebt und erste Anwohner ihre Auffahrt fegen. Ich bin einer von Euch.
Die Ernüchterung folgt in der Bäckerei.
Nachdem die Menschen vor mir in der Schlange alle auf Plattdüütsch bedient wurden, schwenkt die Verkäuferin bei mir ins Hochdeutsche. Ich bin enttäuscht. Sieht man mir den Städter etwa doch noch an?
Wie schön wäre es, jetzt einfach die Bestellung lässig in feinstem Plattdüütsch aufgeben zu können! Aber leider ist mir mehr als Verstehen nicht gegeben, und so ziehe ich geschlagen meiner Wege, die erworbene Brötchentüte wie irgendetwas Unanständiges in meiner Jacke verbergend.
Zum Mittag kehre ich in eines dieser zwanghaft auf modern getrimmten und damit sehr uniformiert wirkenden Restaurants ein, bei denen es also quasi egal ist, ob sie in Berlin oder Ostfriesland stehen. Aber dieses hier hat gutes Essen, so wurde es mir zumindest erzählt.
Die sehr junge Bedienung bringt mir die Strauchtomatensuppe in einem Wasserglas. Das finde ich furchtbar stillos: Es sieht grauenhaft aus, die Suppe wird viel zu schnell kalt und man gelangt nur mit einem Teelöffel auf den Grund, von dem sich aber wiederum nur hundsmiserabel essen lässt. Kurz überlege ich, ob ich mich beschweren soll, dass ich die Suppe doch lieber vom Porzellan hätte oder zumindest aus einem für Suppen geeigneten Weckglas, und dass ich angesichts des Suppenpreises das Servieren in einem 1€-Trinkglas vom IKEA für eine Frechheit sondergleichen halte, aber dann denke ich daran, dass die Kellnerin für die missglückten Kreativkapriolen ihrer Vorturner nichts kann und halte lieber die Klappe.
Es fällt deutlich schwerer, zu nörgeln, wenn man einmal auf der anderen Seite des Geschäftes gearbeitet hat — insofern war wohl alles zu etwas gut. Auf einen Nachtisch verzichte ich indes; zu groß die Furcht, diesen auf nackiger Schieferplatte serviert zu bekommen oder sonst einem Auswurf neumodischer Gastronomie. Diesem, denke ich, widme ich mich lieber in irgendeinem altmodischem friesischen Oma-Café, wo Cappuccino noch Filterkaffee mit Sprühsahne ist oder erst gar nicht auf der Karte steht: Manchmal bin ich einfach gerne von gestern.
Später lade ich große Stauden und Pflanzkübel auf den Wagen des Baumarktes, dem eigentlichen Ziel meines Ausflugs. Meine Laune steigt schlagartig: Der wohnt hier, denken jetzt sicher alle, sonst würde er ja nichts Großes kaufen. Und vielleicht hat er ein schönes Haus mit einem Garten. Gut, wahrscheinlich denken die Leute eher nichts, weil sie mit ihren eigenen Einkäufen zugange sind, aber ist es nicht wunderbar, endlich angekommen zu sein, irgendwo hinzugehören und sich dort ein Heim zu schaffen?
Es ist zauberhaftes Wetter, und so fällt es leicht, mir im sonnengefluteten Gartencenter des Baumarktes mein Traumhaus samt Garten vorzustellen, auch wenn ich tatsächlich nur meinen Balkon ausrüste. Der Wind rauscht durch die Blätter des Bambus in meinem Einkaufswagen, und ich hebe das Pflänzchen wie ein Baby noch einmal hinaus, um einen passenden Topf dafür auszusuchen. Mein Zuhause!, strahle ich innerlich und würde den Bambus gern an mein Herz drücken, wenn ich ihn nicht ohnehin schon im Arm hielte. Alles ist wunderbar, so wie es ist, denke ich, und dass ich zufriedener nicht sein könnte.
Nur das Glucksen der Teichbrunnen lässt mich noch weiterträumen. Ein Garten mit Teich! Ein solcher gehörte für mich schon als Kind zum perfekten Haus. Einen Vorgarten mit weißgestrichenem Zaun hätte es außerdem, mit Tulpen darin, schneeweißen Scheibengardinen und einem Hahn aus Holz im Küchenfenster, auf den morgens die Sonne fällt, während der Duft frisch gebackener Brötchen durch die Räume zieht.
Nächtelang suchte ich nach genau so einem Hahn im Online-Versandhandel, aber ich fand ihn nirgends. Umso größer mein Erstaunen, als ich nun, in der Dekoabteilung, vor exakt dem Tier aus meinen Kinderträumen stehe. Er ist eigentlich ein bisschen zu teuer, aber ich kaufe den Hahn, ohne zu zögern. Manchmal mag man ja doch an einen Wink des Schicksals glauben. Und an ein Zuhause, für das man schon immer bestimmt war.