Es gibt Tage, die in einem konturlosen Einheitsgrau verschwinden, als hätte es sie nie gegeben, diese Tage mit nichtssagendem Wetter, nichtssagender Dünung, nichtssagenden Plänen: Nichttage. Heute wird so ein Nichttag, denke ich, als ich mich übermüdet aus dem Bett quäle, nach einer schlaflosen Nacht, in der Boe um Boe an den Fenstern rüttelte und die Beschwerungsplättchen des in voreiliger Erwartung des Hochsommers angebrachten Insektenvorhangs mit unmelodischem Klackern gegen die Scheiben schlugen.
Ich muss zum Zahnarzt aufs Festland, und so stehe ich am Bahnhof unter den Wartenden, alle mit gesenkten Häuptern unter ihren regennassen Kapuzen, die Hände irgendwo verborgen vor den schneidenden Windstößen. Dazwischen quengelnde Kinder, wuselnde Hunde, streitende Paare, Gepäck. In der Inselbahn ist das nette Paar, das ich letztens noch in der Weinbar traf; sie planen eine Ausflugsfahrt mit dem Schiff und ertragen das Mistwetter tapfer, um den Kindern die Vorfreude nicht zu nehmen. Ich bin einigermaßen entzückt, als mir zur Begrüßung sogar der dreijährige Junge des Paares lächelnd das winzige Patschhändchen reicht, und auf einmal kommt mir diese Familie vor wie ein einzelner bunter Regenschirm in einem Meer von lauter grauen. Am Hafen nehmen wir Abschied und besteigen unsere wartenden Schiffe.
Unter Deck lese ich eine Geschichte von Gorch Fock, „Der Krämer“. Ich ahne das tragische Ende der Hauptfigur bereits, als der Autor das erste Mal den Dachbalken des Krämerladens erwähnt, und denke noch „bitte nicht“, denn längst hat man den Protagonisten liebgewonnen in seiner norddeutschen Steifigkeit, aber dann sterben ihm der Reihe nach alle Kinder weg, die Frau, und dann hängt er dort, über dem Herzen seiner Existenz, während sein eigenes aufhört zu schlagen.
Ich klappe das Buch zu und starre konsterniert aus dem Bullauge der Fähre, bis mich die Welt zurück hat. Es ist nur ein Buch, sage ich mir, während graue See in kleinen, langweiligen Wellen gleichgültig an der Bordwand leckt.
Dort unten ist auch Gorch Fock, denke ich, während ich in das trübe Wasser starre, obwohl das gar nicht stimmt, weil seine Leiche gefunden wurde und er auf der schwedischen Insel Stensholmen bestattet liegt. Aber noch lässt mich die Dramatik der Geschichte nicht los, vor allem nicht das unheimliche Detail, dass einer der Krämersöhne im Skagerrak ertrinkt, wo der Schriftsteller im Alter von nur 36 Jahren schon bald selbst den Tod finden sollte. Am 31. Mai, in wenigen Tagen, jährt sich der Tod Gorch Focks zum hundertsten Male, und damit auch der Untergang des Kleinen Kreuzers SMS Wiesbaden, auf dem er damals diente.
Bei der Überfahrt ans Festland denke ich über die dunklen Seiten der See schon lange nicht mehr nach. Beim Busfahren über Land habe ich mehr Angst, und soweit ich weiß, ist auch noch nie eine Langeoog-Fähre havariert, aber vergessen sollte man ihn wohl nie, den Respekt vor der See. Ebensowenig wie die Erinnerung an das entbehrungsreiche Leben unserer Vorväter auf diesem wunderschönen Landstrich hinter den Deichen, auf dem, wie es ein anderer Schriftsteller einmal treffend beschrieb, „einen der Herrgott auf seiner flachen Hand direkt unter den Himmel hält“.
Was für eine wunderbar passende Beschreibung, denke ich, und bedauere, dass mir der Name dieses Autoren gerade partout nicht mehr einfallen möchte.
Ich verlasse das Schiff in Bensersiel, zitternd vor dem überfüllten Wartehäuschen dem auf dem Parkplatz stehenden Bus entgegenharrend, auf dessen Display das Bild einer dampfenden Kaffeetasse das Wort PAUSE umrahmt.
Dann endlich geht es weiter.
Einmal mehr denke ich, dass es wenig Trostloseres gibt als ostfriesische Kleinstädte im Regen. Aus den Körben vor den fast verwaisten Souvenirläden schauen mich Plüschseehunde mit triefnassem Fell an; um den Hals winzige Tücher in Rot oder Blau. Daneben lacht eine Sonne von einem Kaffeebecher; auch über ihr Gesicht laufen Tränen aus Regen. Kinder quengeln um ein Körbchen in Plastik eingeschweißter Muscheln, und der Vater tobt, weil es doch Muscheln in Hülle und Fülle gäbe hier am Strand, man müsse nur hingehen und welche sammeln. Die Mutter indes gibt nach und kauft. Am Ende verlassen zwei strahlende Kinder das Geschäft, die Muschelkörbe ans Herz gedrückt. Und zwei Elternteile, von denen jedes angestrengt in eine andere Richtung blickt.
Die Szene deprimiert mich. Warum ist Glück immer so teuer erkauft denke ich, und: Was tut man nicht alles aus Liebe.
Ich taste in meinen Jackentaschen herum: Irgendwo finde auch ich dort immer noch Muscheln, die ich am Strand sah, haben musste, einsteckte, und dann wieder vergaß, bis sie mir irgendwann als kleine Splitter in die Finger schnitten.
Heute finde ich keine darin.
Das Wetter ändert sich auch in der nächsten Stunde, die ich beim Warten auf meinen Termin vertrödele, kein Stück. Es bleibt ein Nichttag. Es ist weder richtig kalt noch warm, es ist weder völlig verregnet noch trocken, es ist weder hell noch dunkel. Ohne meine Uhr hätte ich nicht die leisteste Ahnung, wie spät es ist, denn auch der Sonnenstand lässt sich im Einheitsgrau der diffus ausgeleuchteten Wolkendecke nicht wirklich erkennen. Nach der netten Familie in der Bahn ist nur noch der Postbote ein Lichtblick, der gerade in seiner Fahrradtasche nach Briefen kramt. Seine Haare und sein gepflegter Bart sehen aus wie mit Blattgold überzogen, und ich stelle wieder einmal bass erstaunt fest, welche wunderbaren Blondtöne ostfriesische Menschen zuweilen in all ihrer wohltuenden Uneitelkeit spazieren tragen. Ich streiche gedankenverloren durch mein eigenes Allerweltsblond und erinnere das nächste Ziel meines Ausflugs: Den Friseur. Der kann zwar nur genau eine Herrenfrisur, mit der alle der vor mir Wartenden den altmodischen Salon verlassen, aber dafür ist der Friseur billig und schnell. Ich reihe mich also ein und höre dem Kleinstadttratsch zu: Die Exfrau von dem, der jetzt mit der, die ist ja jetzt auch mit so nem Ausländer. Und natürlich habe man nichts gegen die, aber jetzt, diese ganzen Asylanten … und schon tönt es von der Wartebank: Die Ofen wieder anfeuern, das müsse man! Ich sage dem Friseur, dass ich doch nicht mehr warten könne und entferne mich aus dem Laden, bevor ich irgendetwas sage, das mich noch vor dem Zahnarztbesuch um meine schönen Zähne bringt — das Dorftestosteron ist ja zuweilen auch nicht zu unterschätzen. Und ich frage mich, was eigentlich in den letzten Jahren passiert ist, dass unsere Gesellschaft so verroht. Oder ob viele Leute das mit den Öfen die ganze Zeit dachten und es sich nur nicht auszusprechen trauten. Es ist entsetzlich, denke ich. Aber andererseits will ich um die wahre Gesinnung einer Person auch nicht belogen werden: Es kämpft sich leichter gegen einem Wolf, wenn er den niedlichen Schafspelz abgelegt hat.
Nach dem Zahnarzt esse ich in einem gutbürgerlichen Wirtshaus zu Mittag. Das Essen ist in Ordnung und im Vergleich zur Insel nahezu absurd günstig. Auf der Toilette gibt es diese großen Klorollenhalter mit einem Ablageschälchen aus Aluminium obendrauf. Ich sehe hin und stelle fest, dass ich tatsächlich immer noch damit rechne, wie in Berlin überall Kokskrümel darauf zu finden, mit den gefalteten Flyern und Kartenschnipseln drumherum verteilt. Wenn man betrunken genug war, um keine nennenswerte Ekelgrenze mehr zu kennen, konnte man das mit der Fingerspitze auftunken und sich die Pulverreste in irgendeine Schleimhaut reiben; ich kannte genug, die so die Zeit überbrückten, bis sie wieder irgendjemanden fanden, der ihnen etwas Ordentliches zum Schnüffeln ausgab.
Innerlich schüttele ich ungläubig den Kopf darüber, wann und wo ich mich noch an Berlin erinnere. Im Berlin meiner Erinnerung ist meistens Nacht. Es gibt Musik und schöne Männer mit wenig an. Tage im Bett mit viel Bereuen. Tage im Bett mit vielen Männern. Es gibt Taxilichter im Regen. Irgendwann gibt es dich. Und den Gedanken: Lass uns gehen. Ich will nur noch dich. Dich, den Deich und das Meer in deinen Augen. Aber du bist geblieben, bei der Nacht, der Musik, den Lichtern, den Männern und dem Regen.
Nun, heute regnet es hier auch. Ich verlasse die Stadt, bevor die Taxen ihre Lichter anwerfen. Es ist Hochwasser, und so macht die Fähre auf dem Rückweg ordentlich Fahrt. Der Himmel zeigt noch immer sein Einheitsgrau: Seine Nichtfarbe.
Immer wieder finde ich in deinen Texten Passagen, die ein plötzliches, unabweisbares Ziepen in meinem Herzen auslösen. Diesmal ist es die Szene mit den Kindern und den Muschelkörben.
Ich hatte als Kind nämlich genau so ein Körbchen, gekauft in einem Souvenirladen irgendeines Küstenortes. Ich vermute, dass ich mein Taschengeld dafür hingeblättert habe. Und da ist die Erinnerung: diese tiefe, alles überdeckende Sehnsucht danach, irgendwelche funkelnden, schönen Dinge zu besitzen, die ich irgendwo sah. Man könnte auch sagen: diese reine, ungetrübte Gier. Und das ebenso ungetrübte Glück, das sich beim Inbesitznehmen tatsächlich einstellte. Ich weiß noch genau, wie ich vor dem Regal stand und überlegte, ob ich mir das wirklich leisten wollte und in welchem Korb wohl die schönsten Muscheln wären. Und wie groß dann die Freude an diesen vielen schönen Muscheln mit den tollen Mustern war. Nicht so wie heute nach einem Frustkauf, wo man ja im Grunde vorher schon weiß, dass er keine Sehnsucht stillen wird.
Und es ist seltsam, aber genau dieses Muschelkörbchen habe ich erst vor wenigen Tagen in einem Schrank im Haus meiner Mutter gefunden. Alle Muscheln waren noch drin. Das Glück nicht mehr, aber das finde ich heute anderswo. Es ist halt ein bisschen komplizierter geworden…
Wieder einmal danke für einen wunder-vollen Text!
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Was für eine zauberhafte Anekdote! Macht mich gerade auch sehr glücklich. Ich danke dir für diesen wunderbaren Beitrag, lieber Fink! :*
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