Auf Tjard-sin-Utkiek sieht man zu beiden Seiten das Meer. Das Meer im Süden liegt silbergrau und ruhig, wie ein mattes Stück Alufolie, zwischen Insel und Festland. Im Norden ist die See schiefergrau und wild. Dazwischen liegen die Dünentäler.
Unbeeindruckt vom diesigen Licht eines wolkenverhangenen Spätsommerabends, zeigen die Dünen um diese Jahreszeit ihre ganze Pracht. Genährt von den warmen Sonnentagen und dem Regen, drängen sich, wohin man schaut, pralle Früchte an Sträuchern und Gräsern ins Licht. Einige Früchte der Dünenrosen sind von einem fast unwirklich grellen Signalrot, andere bereits so tiefrot wie ein königlicher Mantel. Dazwischen das satte Nachtblau der Beeren des Heidekrauts. Die orangefarbenen Dolden der Eberesche, das Zartgelb irgendeines kleinen Lippenblütlers, den ich nicht näher zu benennen weiß. Es lohnt sich, innezuhalten. Die Hand darüber streifen zu lassen, all die Texturen zu erfassen, die Glätte der Beeren, die samtigen Blütenblätter, die regenfeuchten, rauen Halme des Strandhafers. Dazwischen all dieses wunderbare Grün von Moosen, Gräsern und Flechten, Ruhe für das Herz. Ich gebe zu, dass auch ich mich manchmal einfach gern auf diesen sattgrünen, weich bemoosten Boden legen würde, bevor uns der Winter ereilt, aber der Dünenschutz ist die Lebensversicherung der Insulaner. Also beschränke ich mich aufs Ansehen und Träumen. Vielleicht, denke ich in einem Anfall präherbstlicher Melancholie, hätte ich das auch lieber bei dir getan. Aber es lässt sich nicht mehr ändern, und nun bade ich mein Herz in der Gewissheit, dass auch dieser nahende Herbst mich wieder ein Jahr weiter in sichere Gewässer bringt: Dorthin, wo mich dein Gesang an keine Klippen lockt.
Ich mag den Spätsommer.
Die Luft ist noch mild und wunderbar weich in den Lungen, während sich die Natur einem Farbenrausch in einzigartiger Pracht hingibt. Ich mag es, wenn es langsam wieder ruhiger wird auf Langeoog, langsamer, und auf angenehme Weise träger. Ich mag es, kuschelige Stricksachen zu tragen und einigen wunderbaren Anachronismen zu frönen: Analog Zeitung lesend im Schaukelstuhl, während der Seewind bunt verfärbtes Laub am Fenster vorbeiträgt und die Vögel ihr Prachtkleid ablegen. Aber noch ist es nicht so weit: Auch wenn das Wetter es nicht vermuten lässt, so ist doch offiziell immer noch Hauptsaison.
Beim Abstieg von der Aussichtsdüne Tjard-sin-Utkiek kommt mir eine Gruppe 12- bis höchstens 13-jähriger Jungen entgegen, die sich über Blowjobs unterhalten — präpubertäre Angeberei vermeintlich praktischer Erfahrungen inbegriffen. Das sind doch noch Kinder, denke ich konsterniert, und dass ich in diesem Alter noch nicht einmal wusste, was das ist. Auch mit der Ruhe ist es nun vorbei: Die Kinder haben ein lärmendes Gerät dabei, das in meiner Jugend ein Ghettoblaster gewesen wäre. Keine Ahnung, wie die Dinger heute heißen, aber auf jeden Fall ist es laut, und auch das Ghetto ist nicht zu überhören: Aus den Boxen dröhnt jene Art von Rap, mit der man Integrationspreise gewinnt, obwohl man darin das Totschlagen von Homosexuellen und sexuelle Übergriffigkeit auf Frauen feiert. Das Meer und den Wind höre ich nun nicht mehr.
Das sind Kinder, sage ich mir erneut, um nicht darüber wütend zu werden, aber ein inneres Aufseufzen bezüglich des Niveaus unserer Jugend und angeblichen zukünftigen Rentenzahler_innen entlockt es mir doch. Und ja, ich weiß, dass sich auch Sokrates bereits darüber ereiferte, und aus der Menschheit dann trotzdem noch etwas wurde, zumindest aus einem Teil davon.
Nachdenklich betrachte ich einen Brombeerbusch, bis sich das Rudel Einachtelstarker verzogen hat.
Ich pflücke einige der bereits schwarzglänzenden Beeren und esse sie. Auf Langeoog kann man das machen, da es hier mangels Füchsen auch keinen Fuchsbandwurm gibt, und so ist das Schlimmste, was einem beim Brombeerenessen passieren kann, dass irgendein Tier drauf gepieselt oder ein Wurm darin Stellung bezogen hat. Es sind erst wenige reif, aber diese schmecken schon süß und ich freue mich auf den Tag, an dem ich so viele sammeln kann, dass es zum Belegen eines kleinen Törtchens für die Teestunde reicht: Brombeeren sind meine Lieblingsfrüchte.
Der Himmel zieht sich schon wieder zu. Vor dem Haus steht der neue Nachbar, ein Junge aus einer osteuropäischen Familie, deren Sprache ich leider nicht zuordnen kann. Er grüßt sehr freundlich; die Tage sprach er mich an, dass ihm mein Fahrrad gefiele. Die Familie sind außer mir die einzigen Dauerbewohner im Haus. Der Junge ist nett und höflich, und ich stelle mit mehr Resignation als Verwunderung fest, dass er ein schöneres Deutsch spricht als die sehr wahrscheinlich muttersprachlichen Teenies von vorhin. Seine Grammatik ist trotz des starken Akzents von einer zauberhaften Lehrbuch-Korrektheit und die Aussprache sehr deutlich. Ich beschließe, den Nachbarn zu mögen. Die blonde Touristin, die soeben aus der Haustür tritt, grüßt mich hingegen nicht.
Heimat zu finden ist etwas Kostbares, denke ich, und nur selten hat es etwas mit dem Geburtsort zu tun. Heimat, denke ich, ist ein Gefühl. Und manchmal ist es auch Mut.
Ich laufe vom Wohnzimmer in die Küche und denke daran, wie ich diesen Weg noch als 70jähriger laufen werde; meine neue Lieblingsstrickjacke, die ich heute trage, ist dann längst verschlissen. Aber ich werde auf dieselben Fliesen sehen. Vielleicht werde ich dabei Schmerzen haben, in den Knien, im Rücken. Vielleicht habe ich dann kaum noch Haare. Vielleicht habe ich Hunger, weil meine Rente grässlich sein wird. Aber ich werde hier sein, in meiner eigenen Wohnung: Und dieses Gefühl ist ebenso beruhigend wie beängstigend. Es ist lange her, dass ich mich irgendwo zum Bleiben entschloss.
Und hier, auf der Insel, ist es das erste Mal, dass mir das Bleiben nicht der Verstand, sondern das Herz befahl, und wo kein anderer Mensch bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielte. Hier werde ich alt werden, denke ich, so Gott will. Und ich weiß, dass ich nichts anderes möchte.
Lass einmal alles gut sein, bete ich innerlich. Erhalte mir Gesundheit und meinen Arbeitsplatz. Lass mich bleiben. Reisen ist schön, aber genießen kann das Unterwegssein wohl nur, wer auch einen Ort zur Heimkehr hat. „Der Weg ist das Ziel“, Kong Fuzi zugeschrieben, war nie meine Philosophie. Genaugenommen, hasse ich Wege. Aber ich liebe das Ankommen.
Auf dem Grünstreifen vor dem Haus spielt ein Mädchen mit einer Schnecke. Sie hält dem Tier Blätter zum Fressen hin und spricht mit ihm wie mit einem Freund. „Schau mal, ich hab noch mehr. Dann kannst du alle deine Freundinnen einladen“ erzählt das Mädchen dem kleinen Kriechtier und man meint fast, die Schnecke lächeln zu sehen. Süß, denke ich, dass für sie auch die Schnecke ein Mädchen ist. Für mich waren auch alle Tiere immer Jungs, egal ob echt oder aus Stoff. Man sucht sich halt ein Identifikationsobjekt. In Wirklichkeit sind Schnecken Zwitter, aber von den verschiedenen Spielarten der Geschlechtlichkeit erfährt die Kleine noch früh genug. Irgendwas berührt mich an diesem Stande der Unschuld, und ich hoffe, dass ihr die Teeniejungen mit ihrem hormonellen Verbalgebolze nicht noch begegnen.
Ich lächele das Mädchen an und sie hält mir ihre kleine Schneckenfreundin auf dem flachen Handteller hin wie ein Geschenk. „Das ist aber eine hübsche Schnecke“ sage ich, und die Kleine strahlt. Am Ende des Weges rufen ungeduldig die Menschenfreundinnen nach ihr.