Momentaufnahme, Fernweh

Im Haus gegenüber sind die Lichter ausgegangen. Schwalben schießen durch den sich verdunkelnden Himmel, in den, von mir unbemerkt, die Dämmerung eingesackt ist, ohne dass ich mich nach dem Sonnenuntergang umgedreht hätte, während ich auf meinem nach Osten gerichteten Balkon saß und las.

Hinter dem Friedhof, vom Haus aus gerade noch in Sichtweite, ziert ein schmaler Streif Nadelbäume den Dünenrand. Dahinter erstreckt sich das Meer, das nun schwarz daläge in seiner nächtlichen Einsamkeit, blinkte nicht noch das Leuchtfeuer von Helgoland mit der schönen Regelmäßigkeit eines Herzschlags oder die Lichter der auf Reede liegenden Containerschiffe.
In den Kiefernzweigen plustern Wildtauben ihr Gefieder; ein Fasan sucht leise meckernd Deckung zwischen Moosen und Farn.

„Ich sähe so gern mal wieder Wald“ erzähle ich dem alten Nachbarn, den ich früher am Tage vor dem Blumengeschäft treffe, „einen richtigen Wald. Das fehlt mir.“ „Ja“, sagt der Mann, „schön sowas. Ich war gerade in Schweden, bei unserem Sohn, der lebt dort, da waren Bäume wie Fahnenmasten, wunderbar, sag ich dir, so hoch waren die.“ Er reckt die Finger bis in den Himmel und grinst in seinen schlohweißen Bart. „Nach Südtirol möchte ich gern“, erzähle ich weiter, „vielleicht im Herbst, aber ich weiß nicht recht, wegen des Geldes. Nachher ist irgendwas und dann hat man nichts mehr, weil man im Urlaub war, aber da soll es Lärchenwälder geben, tiefe Wälder, so weit, wie das Auge reicht.“ „Ach Jungchen“, sagt der Mann, der mich immer „Jungchen“ nennt, obwohl mich mittlerweile auch schon vier Jahrzehnte auf Erden versaut haben, und legt mir seine große, schwere Hand auf die Schulter, die in seinem Berufsleben bei der Handelsmarine schon Gottweißwas für Dinge geschleppt und zurechtgezurrt hat. Der Mann hat gearbeitet: So viel steht fest.

„Jungchen“, sagt er, „so war das ja früher, nech: Sparen, sparen, hieß das immer, dann haste. Später, dann haste. Aber was haste dann, und für was? Mitnehmen kannste doch nix am Ende, und ich hab noch keine Kiste gesehen, wo hinten ne Anhängerkupplung dran ist.“
„Ja“, sage ich, „das letzte Hemd hat keine Taschen, sagt auch mein Vater immer“, und ich muss lachen, weil wir beide mit unseren Fahrrädern vor dem Geschäft stehen, ein jeder mit einem Anhänger angekuppelt. Aus meinem ragen Geranien und ein Margaritenstämmchen, aus seinem eine Seilwinde mit ein paar Metern Stahltau. Aber er hat ja Recht: Auf unserem letzten Gang kommt das nicht mit, und kurz befällt mich deswegen Trauer. Es gibt so viele Sachen, die mir lieb sind, und die neu gekauften Blumen sind noch so schön und voller Leben.

„Ich bin froh, dass ich so viel gesehen habe, als ich jung war, jetzt kann ich ja nicht mehr so und will’s auch nicht. War zwar alles schön, aber weißt du, wenn Du nach Edinburgh reinfährst in den Hafen, dann siehst du die schönen weißen Felsen, und wenn du nah dran bist, sind die nur weiß vor Lummenscheiße, so ist das, nech.“

Der Mann ist ein Philosoph.

„Ich weiß, was du meinst“, sage ich, und kann nur einmal mehr die ostfriesische Sprachpräzison bewundern. „Aber fahr du mal hin“, fährt er fort, „ist bestimmt schön da. War ja auch schön in Schweden, die Bäume und die Eichhörnchen, überall Eichhörnchen, die haben wir hier ja auch nicht. Und mein Sohn, der hat es da auch gut, zufrieden ist er da, ja.“ Es schwingt etwas Trauer mit, als er das sagt. Es ist eben weit weg, und ich bin sehr froh, dass ich auch gerade noch einmal mit meinen Eltern im Urlaub war.
„Aber was ist denn mit dir, Jungchen, bist du denn zufrieden?“ „Aber ja“, sage ich, „mir geht es gut. Mir gefällt es hier, ist ja auch wunderschön, das Meer, die Dünen. Aber manchmal vermisse ich halt doch einen Wald.“

„Ich bleibe jetzt auch erstmal hier“, sagt der Mann, „muss ja auch nicht weg, wo ich doch Zeitung habe und das Internet. Aber wenn du da so liest, denkst du ja auch: Was soll ich denn hinterlassen, wofür, in so einer Welt.“ Ich nicke nachdenklich. „Hier“, präzisiert er, „dieser Trump“, und er rollt den Namen mit friesischem „R“, „was der schon wieder gemacht hat, diese Scheiße, und alle verärgert. Aber ich sag dir, noch einen Krieg, das brauch ich nicht, da bin ich ja doch froh, dass ich bald abtrete, noch einen Krieg, das brauch ich nicht.“
Recht hat der Mann, denke ich erneut, auch wenn das fatalistisch ist, und bin einmal mehr froh, dass ich keine Kinder habe, und niemandem, dem ich diese Scheiße erklären muss.

Und die Wälder, von denen ich träume: Wer weiß, wie lange die noch stehen. Da mag ein Baum viele Jahrhunderte von oben auf die Menschheit herabgesehen haben, in stoischer Gelassenheit, aber dann kommt die Kreissäge oder ein Gift in den Boden, und dann ist er dahin. Und man kann nur noch Särge draus bauen, mit oder ohne Kupplung.

Ich radele heim und pflanze meine Blumen. Farbtupfer in einer Welt, die sich bei näherer Betrachtung allzu oft in Grau und Moll geriert; ein schöner, weißer Fels, der bei näherem Hinsehen nichts anderes ist als ein Haufen Lummenscheiße, und das Schreien der Seetaucher entpuppt sich bei näherem Hinhören als Kakophonie von Krieg und geschundenen Seelen. Und doch ist die Welt es Wert, bereist zu werden, geliebt und gepflegt. Denn bringt diese eine Welt nicht auch alles zutage, was wir lieben? Fußt sie nicht auf dem einen, großartigen Plan eines liebenden Schöpfergottes? Die Welt ist nicht schlecht, nur weil wir sie zugrunde richten.

Am Strand spielen Kinder mit noch unverdorbener Begeisterung für die Wunder unseres Planeten. „Guck mal, Papa“, rufen sie, „wir haben den Quallen ein Hallenbad gebaut“. Der Vater verlässt seinen Liegeplatz und bewundert die rechteckig ausgehobene Grube. Die Kinder kippen mit ihren Eimern Meerwasser hinein; dazwischen treiben einige der durchsichtigen Gallerttiere, behutsam hineingesetzt wie Fische in ein Aquarium.

Ich mache mir nicht viel aus Kindern, aber hier muss ich doch lächeln, weil mich die Szene als Beobachter rührt, und ich frage mich wehmütig, wie lang es wohl dauern wird, bis jemand den Kindern sagt, dass Quallen das Ungeziefer des Meeres sind, unwürdig eines eigenen Wellnessbereiches. Wie lange es dauert, bis sie aufhören, die Quallen zu mögen.

Ich muss nicht lange warten. Ein paar Meter weiter wird eine Qualle von der Schaufel eines anderen Kindes in Stücke gehackt.

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3 Kommentare

  1. wenn ich mehr Zeit hätte, könnte ich Stundenlang deine Texte lesen. Noch vor einigen Wochen habe ich nicht gwusst das du schon ein wirklicher Schriftsteller bist. Ich hab dich unterschätzt Mayk

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  2. wenn ich mehr Zeit hätte, könnte ich Stundenlang deine Texte lesen. Noch vor einigen Wochen habe ich nicht gwusst das du schon ein wirklicher Schriftsteller bist. Ich hab dich unterschätzt Maik

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    1. Superlieb, 1000 Dank, lieber Heinz! Und ich wünschte, ich hätte nur 1/1000stel Deiner handwerklichen Begabungen 🙂 Ich kann Sätze bauen, aber dafür keine Regale, Dachstühle, Carports …
      Die Texte gibt es im Herbst auch wieder in Buchform. Ich lasse Dir gern eines zukommen. So müssen wir halt alle aus unseren Gottgegebenen Talenten etwas machen.

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