Ich hatte die Kraft des „Irgendwann“ unterschätzt. Das Irgendwann war ein diffuses Donnergrollen in weiter Ferne, ein monotones Summen von Elektrizität irgendwo hoch über den Feldern. Das Irgendwann war anfangs präsent, leise zwar, aber man sah es. Doch dann gewöhnte man sich, und das Irgendwann zerfloss zu einem warmen, umschmeichelnden „Wird schon nicht.“
Irgendwann will er den Hund zurück.
Der kleine Gefährte liegt in sein Lammfell gekuschelt und schläft. Wenn ich seinen Namen rufe, der nicht der ist, den der Vorbesitzer ihm gab, steht er auf, kommt zu mir an den Tisch und sieht mich fragend an. Die letzten Meter zum Haus rennt er, wenn wir heimkommen, und er weiß, wo der Wäschekeller ist, in dem ich ab und zu verschwinde. Dann wagt er sich die Treppen herunter und schaut nach mir, steckt das neugierige Näschen mit in die Trommel, das immer aussieht, als habe er aus einem Topf Puderzucker genascht. Der Hund kennt sich aus; er weiß, wo er wohnt.
„Es ist für ein paar Tage.“ „Zwei Wochen vielleicht.“ „Der Besitzer ist bis auf Weiteres verschwunden.“
Da war es also, das schöne, warme „Bis auf Weiteres“ und winkte mit fast so etwas wie einer Zukunft. Der Hund und ich. Wir beide.
Aber dann materialisierte sich das „Irgendwann“, baute sich kalt und drohend vor mir auf, mit einem Datum im Schlepptau. „Er will den Hund zurück.“
Mein Vater schickte eine DVD von „Tim und Struppi“: Der Lokalreporter und sein Hund, das seid ihr beide.
Ich brach in Tränen aus.
Du wusstest doch, dass der Hund nicht dir gehört, wurde geunkt, du hättest ihn ja nicht nehmen brauchen. Nein. Ich hätte ihn auch nicht lieben brauchen. Dann wäre er eine Sache, die man aufbewahrt und gegen einen angemessenen Obulus wieder abgibt. Dann wäre er ein Geschäft. Aber ich bin sein Zuhause geworden, jetzt, nach all der Zeit.
In meiner Lieblingszeitschrift GEO ist ein Bericht über eine Frau, die sich um Pflegekinder kümmert. Wie sie das schaffe, in dem Wissen, alle wieder hergeben zu müssen. Irgendwann, vielleicht. Vielleicht auch nie. Sie böte den Kindern ein gutes, glückliches Jetzt. Ums Morgen wisse man nicht. Nie. Ich sehe den Hund an und denke: Dann hast Du bei mir eben die schönste Zeit Deines Lebens. Dann werde ich Dich mit Liebe und Fürsorge zuschütten, damit Du noch lang davon zehren kannst, solange es halt irgendwie geht. Aber dann schiebt sich, kalt und knirschend, dieser Riegel übers Herz, der sagt: Hör auf ihn zu lieben. Am besten schon gestern. Er bleibt nicht.
Mich erreicht die E-Mail eines Bekannten, seine Frau habe ihn verlassen. Ich fühle seinen Schmerz, höre förmlich aus den Zeilen, wie seine Welt vor mir zerbröckelt, noch weit entfernt davon, sich zu etwas Neuem zusammenzufügen. Der Mann tut mir Leid. Ich weiß, was er durchmacht. Und trotzdem, denke ich, ist man in diesem Leid so mutterseelenallein.
Ich kann ihm sagen, dass ich mit ihm fühle. Dass ich seine Hilflosigkeit verstehe, das Klammern an jeden Halm, um das Unbegreifliche begreiflich zu machen.
Es ist gut, wenn Menschen mitfühlen, denke ich. Und trotzdem: Das Leid nimmt einem niemand ab.
Man muss alleine durch. Mit Glück reicht einem jemand die Hand, mit Glück leuchtet einem jemand ein Stück des Weges. Und Gott? Natürlich ist Gott da, Gott fügt und führt, aber oft genug sind unsere Wege so verschlungen, unsere Trauer so gleißend, dass wir sein Licht nicht sehen und seine Hand nicht erkennen.
Und auch das Leid, so lehrte mich das Leben, ist wirklich niemals sinnlos. Sollte ich den Hund also hergeben müssen, wäre das Leiden entsetzlich. Aber ich nähme es an, besänne mich auf die wunderbare Zeit, die wir hatten, zöge Lehren daraus und sähe nach vorn: Zumindest nehme ich mir das vor.
In zwei Monaten bin ich Katholik; es steht mir nicht mehr zu, mein Schicksal zu hinterfragen oder damit zu hadern. Das hat etwas Beruhigendes: Der Herr wird es richten. Es gibt für alles einen Plan.
Ist das naiv? Gibt man damit Verantwortung ab? Ist Religion doch nur das vielzitierte Opium fürs Volk? Ich mag nicht mehr darüber nachdenken. Gott existiert. Ich habe es zur Genüge erfahren.
Draußen schlagen die Zweige im Sturm ans Fenster. Regen tropft von der Lichterkette, die sich durch meine Winterheide schlängelt. Hundert kleine Lichtpunkte in der Schwärze der Inselnacht, vergangene Weihnachtsfreuden, der Hund und ich inmitten unzähliger Pakete und Ansichtskarten, die meisten der Geschenke waren für ihn. So viel Mitgefühl, soviel Mitfreuen. Unmengen Delikatessen; der Hund und ich teilten uns ein Brot mit Trüffelleberwurst. Er ist so glücklich. Mein Weinen verstört ihn, und ich mag ihn nicht ansehen, weil ich dann denken muss: Bald kommst Du weg. Vielleicht. Und ich weiß nicht, ob das „bald“ schlimmer ist oder das relativierende „vielleicht“, das die frische Wunde im Herzen gleich wieder mit seinem Sirup zukleistert. „Wir helfen Dir“, sagen die Freunde. Und die meisten meinen das Ernst.
Compassion. Einer der Jesuitenpater, die bei uns als Kurpastoren Dienst tun, erklärte einst, dass ihm das englische und spanische Wort lieber sei als unser „Mitgefühl“, weil in der Kon-Passion das Leiden steckt, das mehr sei als das bloße Fühlen — aber auch etwas anderes als das bei uns eher abfällig besetzte Wort „Mitleid“. Mitleid will niemand. Mitgefühl tut gut. Und die Compassion, das Mit-Erleiden? Fühlt sich nach einer ausgestreckten Hand an, die das Kreuz tragen hilft. Ohne viele Worte. Ohne Bedauern. Mit purem Da-Sein, Anfassen, Helfen.
Ein lieber Freund formuliert das in der Regel so: „Was kann ich tun?“ Kein „Kann ich was tun?“ Kein „Was willst Du jetzt tun?“. Vermutlich bringt genau das „Compassion“ auf den Punkt. Die stützende, helfende, fangende Hand.
Ich bin dankbar dafür. Denn der Hund soll es nicht spüren, das Leiden und Straucheln. Ich bin sein Zuhause. Und ein Zuhause braucht feste Wände.
Wie bewegend…ich hoffe mit Euch…einfach eine Umarmung für Dich und Wölfi
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ich danke Dir, lieber Frank ❤
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