Hinter dem Fenster zeigt sich schemenhaft ein Gesicht. Ein Hauch bewegt die Gardine, dann huscht ein Schatten durchs Zimmer. Anderswo sieht ein lesender Mensch auf von seinem Buch und späht in die Dunkelheit. Es ist kurz vor Sonnenaufgang.
Die Straßen mögen einsam sein auf der Insel im Januar und vielleicht auch die Menschen. Aber nichts passiert unbesehen; kaum etwas unkommentiert.
Es ist seltsam mit den Menschen, denke ich, als ich vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf das noch tauglatte Pflaster setze, die Blicke von drinnen spürend, obwohl meine Schritte nicht laut sind. Immer sind sie wachsam, alles wollen sie mitbekommen, stets auf der Suche nach Neuem, nach den großen und kleinen Skandälchen des Lebens, manche auch nur auf der Suche nach einer guten Geschichte, die sie beim Tee erzählen können. Manche aus Neugier, manche zum Zeitvertreib, manche aus Klatschsucht. Einige mögen auch aus Vorsicht die Straße beobachten, aus Angst vor Einbrechern, Vandalen und Dieben.
Und doch, denke ich weiter, sperren sie sich oft zugleich gegen das Neue, gegen den Wandel, gegen einen Richtungswechsel der Gedanken oder der tradierten Rollenmuster. Manchen, so scheint es, ist sogar ein tragisches Schicksal lieber als ein ungewisses; eine langweilige Gewohnheit lieber als ein spannendes Abenteuer. Und dennoch ist da dieses Dranbleibenwollen an der Welt, die ewige Suche nach der Nachricht des Tages. Wie geht das zusammen?
Der Hund scharrt in einem Vorgarten; Rindenmulch fliegt in hohem Bogen auf das Trottoir. Ich kehre den Mulch notdürftig mit dem Fuß zusammen und schiebe ihn zurück in die Rabatte. Hoffentlich hat uns keiner gesehen, murmele ich, und ziehe den Hund weiter zur Kreuzung. Hinter uns ragt der Turm von St. Nikolaus in den Himmel. Auch Gott sieht alles, natürlich.
Der graue Morgenhimmel erbläut. Unschuldig weiße Stratocumuli wachsen wie Stockrosenranken in den Äther, das Meer brandet sanft ans immer gleiche und doch niemals gleich aussehende Ufer.
Auch der Winter ging sanft um mit der Insel dieses Jahr; unvorstellbar, dass sich vor 39 Jahren während eines schweren Kälteeinbruchs hier der Schnee bis unter die Dachrinnen türmte. Die Insel war damals von der Welt abgeschnitten, und glücklich, wer etwas oder jemanden hatte, der wärmte.
„Die Entbindungsstationen waren voll neun Monate später“ berichtet schmunzelnd eine Bekannte; auch ihr Sohn ist ein Kind dieses Schneewinters.
Mich wärmt der Gedanke an lieben Besuch. Noch sind die Knospen gerade einmal eine zarte Wölbung unter der Rinde der Sträucher. Wenn er da ist, denke ich, sieht man vielleicht schon etwas Grün. Und wenn er doch nicht kommt?
Es lohnt sich ja immer, das Warten auf den Frühling, versuche ich mich zu trösten: Das Beste hoffend, für das Schlimmste wappnend.
Es lohnt sich, wiederhole ich im Inneren mit Inbrunst, auch wenn jeder Mensch wohl mit den Jahren lernt, dass es zuweilen zynisch erscheint, das Erblühen und Erstrahlen um einen herum, während man selbst welkt Jahr um Jahr.
Warum nur, hadere ich, ist man physisch zu einem Zeitpunkt am Schönsten, an dem man es meist charakterlich noch nicht ist und das Leben als solches auch nicht?
Im Dorf sehe ich mein Spiegelbild in den Scheiben der geschlossenen Geschäfte und Restaurants; schemenhaft erkennt man die Stühle auf den Tischen, die Renovierungsutensilien neben ausgeräumten Regalen. Die Fassade kann den Blick nicht von der Leere ablenken.
Die Zeiten sind vorbei, denke ich: Man muss nehmen, was da ist. Man kann nur beten, dass es reicht; das man noch irgendwo genügt. Dass er noch irgendetwas sieht, wo man für ihn am Schönsten ist.
In der Ferne ertönt das Signal der Inselbahn.
Ja, auch dieser Zug fährt ab, resigniere ich. Ein Schwarm Gänse stiebt lautstark aus den Feldern, zurzeit ruhen viele am Bahnübergang, unweit des Andreaskreuzes. Der durchfahrende Zug scheucht sie auf; danach sammeln sie sich erneut, bis der Aufbruch naht zu ihrer Reise.
Sie werden ihm vielleicht entgegen fliegen.