Das Meer klingt anders als Zuhause. In der Dunkelheit rauschen die Wogen gegen die Wellenbrecher, eingehüllt in dichten Nebel, der seit heute Morgen anhält. Alles wirkt gedämpft; auch am hellichten Tag sah man kaum 20 Meter weit. Über die Insel, die nicht Langeoog ist, legt sich eine nasskalte Glocke diesiger Einsamkeit. Im Nebeltunnel der Strandpromenade verschwindet ein Mann mit seinem Hund, der treue Gefährte furchtlos an seiner Seite.
Ich friere entsetzlich. Ohne Umweg gehe ich von dem kleinen, aber sehr berühmten und geschichtsträchtigen Restaurant, in dem ich zu Abend aß, direkt in den SPA meines Hotels. Um die Uhrzeit ist niemand da, vor dem ich mich bedecken müsste, und so breite ich mich komplett hüllenlos im Dampfbad aus, bis auch die kleinste Muskelfaser durchwärmt ist. Anschließen dusche ich warm, und ja: ich bin der Idiot, der die eisigen Duschen in der Sauna immer auf „heiß“ stellt, worüber dann Saunapuristen fluchen. Ich indes meine: Die Sauna dient dem Aufwärmen; die Abkühlphase übersprang ich schon immer gern. Ich brauche Wärme.
Es ist der letzte Abend auf dieser anderen Insel, die so anders ist als meine Heimat, wenn auch auf ihre Weise ebenfalls sehr schön. Ich mag das Mondäne hier, das Angebot an Hochkultur, den teils in die Jahre gekommenen, aber immer noch sicht- und fühlbaren Seebadcharme, an dem sich schon Kaiser und Dichtergrößen erfreuten. Die Hinwendung zum Skandinavischen: Man begrüßt sich hier mit „Hej“ statt „Moin“.
Und auch die Strandpromenade mit den Wellenbrechern hat etwas für sich. Von meinem Hotel aus sieht man direkt aufs Meer; auch das zeichnet diese Insel aus.
Beim Abendessen blickte ich ebenfalls direkt auf die See — beziehungsweise auf die lackschwarze, nebelmattierte Dunkelheit, aus der das Meer zu mir hinaufklang; in den kleinen runden, warm beleuchteten Pavillon, in dem schon Könige dinierten.
Das Essen war fantastisch, der Cremant ebenso, und doch schmeckte ich es kaum: In dichten Nebel gehüllt liegen zurzeit auch die Sinnesfreuden dieser Welt.
Ich blickte auf meine Nägel, die jetzt ganz glatt sind und wie Glas aussehen. Das Kerzenlicht spiegelte sich darauf, ich ließ sie morgens maniküren. Warum, das weiß ich nicht; vermutlich wollte ich unterbewusst einfach eine Stunde mit jemandem Händchen halten, und sei es nur mit einer hübschen blonden Kosmetikerin aus Hannover. Man verschließt ja gern die Augen vor dieser Art von Bedürftigkeit: Und das Herz sowieso.
Ich wünschte, ich hätte statt auf meine eigenen Hände auf die des Lieblingsmenschen sehen können. Er hielte sie gefaltet beim stillen Zuhören, die schöne, silberne Uhr unter den blütenweißen, eleganten Manschetten des Zivilanzugs hervorblitzend oder unter den hellblauen der Marineuniform. Aber er saß mir nicht gegenüber.
Er schrieb, und mich freute, seinen Namen und sein liebes Gesicht auf dem Mobiltelefon aufleuchten zu sehen, aber dennoch dauerte mich, dass jedes Wort von ihm, jeder Gedanke, jeder mir geltende Schlag seines gütigen Herzens erst von irgendeiner toten Maschinerie in Kolonnen von Nullen und Einsen umgerechnet werden musste, die diese dann auf das Display meines Telefons schaufelte. „Ich wünschte, Du wärst hier“: Auch dieser Wunsch meinerseits wurde erst gestapelt zu Einsen und Nullen, dann durch Datenleitungen gedroschen und schließlich vor seine Augen gekippt.
Im Hotelzimmer wartet der Hund. Aufgeregt tanzt er um mich herum, als ich nach SPA duftend heimkomme, die Augen voll der bedingungslosen, immer verzeihenden Liebe eines Tieres.
Es ist mein erster Urlaub mit dem Hund und es wird mein letzter.
Er muss zurück zu seinem Besitzer. Er wird mich bald vergessen haben, tröste ich mich, wenn dieser Mensch ihn fünf Jahre hatte und ich nur drei Monate, er wird kurz leiden, vielleicht, und möglicherweise vermisst er mich. Aber sicher erkennt er auch sein altes Herrchen wieder, und Gott gebe, dass ihm der Abschied nicht schwer fällt und dieser Mensch sich fortan dauerhaft um ihn kümmert.
Gott hat kein Lebewesen für ein offizielles Dasein an meiner Seite bestimmt: Gar keines. So ist das eben. Ich muss es annehmen.
Ich denke an den Jahreswechsel. Im vorletzten Jahr betete ich an Silvester, dass meinen Eltern ein weiteres Jahr gegeben sei und mir meine Insel bliebe. Beides wurde erhört. Dieses Silvester betete ich, dass ich auch dieses Jahr kein
(Halb-)waise werden und mir der Hund bleiben möge — und wenn nicht, dass Gott mir die Kraft gebe, alles andere zu ertragen. Nun heißt es also: Alles andere.
Dein Wille geschehe.
Der Hund hat sich hingelegt und döst. Ich bin so dankbar für die Gegenwart dieses Tieres, dass mir sein Anblick das Herz abschnürt. Es sollte ein schöner Urlaub werden, nur wir beide. Der Hund genoß die zusätzliche Aufmerksamkeit in vollen Zügen. Ich ließ den kleinen Kameraden über die Wiesen jagen, und im Café, in das ich danach zum Aufwärmen ging, legte er die Pfoten und den Kopf auf meinen Schoß, wo er vertrauensvoll die Augen schloss. Fremde Leute lächelten berührt. „So ein schöner Hund“, „ein richtiger Schmusehund“, „so ein Lieber“. Ja. Gewesen.
Ich laufe ein letztes Mal zur Kirche, jetzt, da die Gewissheit da ist, dass unser gemeinsamer Weg zuende geht. Aus dem Pfarrheim stürmen lärmend die unzähligen Kinder des Ständigen Diakons. „Wauwau!“ macht das Jüngste und stürmt händefuchtelnd auf den Hund zu, den ich soeben vor die Pforte band. Der Hund erschreckt sich. „Nicht“, mahne ich das Kind kraftlos, „er bekommt Angst.“ Das Kind starrt mich eine Weile an, während ich den Hund beruhige und dreht schließlich wortlos ab. Es ist ja selten, dass jemand Angst vor einem Kleinkind hat, aber vor gewissen Wahrheiten kann man niemanden bewahren: Auch du kannst furchteinflößend sein. „Einer is den annern sein Deibel“ hätten meine Großeltern gesagt, das gilt, q.e.d., sogar für die Nachkommen eines katholisch Geweihten.
Der Lärm der Straße dringt bis ins Allerheiligste, vor dem ich Zwiesprache zu halten versuche. Die Kirchenglocke schlägt eine Minute zu spät zur vollen Stunde, ein Missklang schwingt mit im Geläut. Man sollte das richten lassen, denke ich. Auf der Bibel, die vor dem Tabernakel ausliegt, ist der Heilige Geist in Form einer Taube auf dunkelblauem Grund. Es ist ein schönes Motiv. Ein Gebet bringe ich nicht zustande. Gott ist hier, vor mir in diesem Raum, aber ich sehe nur alles andere. „Verzeih mir“, murmele ich, während ich mich von der Kniebank erhebe, um erneut der Dunkelheit entgegenzutreten, „es klappt so nicht.“
Vor der Kirche wartet der Hund auf mich und sieht mich aus treuen braunen Augen an. Kein Vorwurf darin, nur Liebe. Ich knie mich neben ihn, fühle seine Wärme, das Schlagen seines kleinen unschuldigen Hundeherzchens und schmiere Weihwasser und Tränen in sein Fell. Da drinnen die Kerzen, sage ich, die leuchten auch für Dich.