Distanz misst man in Kilometern, sagt man. Zur Überbrückung nimmt man ein Auto, einen Zug, ein Flugzeug, ein Schiff, von mir aus auch ein Raumfahrzeug. Jedenfalls: Irgendwann ist man da. Und dann ist die Ferne plötzlich nur noch das, in was man gemeinsam sieht, worin man Pläne macht, auf gemeinsamem Grund stehend, am Strand, auf einem Berg. Die Zukunft im Blick oder zumindest ein Ziel, das Erleben eines Augenblicks, das Gefühl eines Momentes; Irgendetwas, das man teilt, ohne dass man es zuvor zerlegen, sezieren und in Worte rahmen muss, bevor man es auf eine kilometerlange Reise schickt. Man ersehnt den Tag, an dem die geografische Distanz verschwindet, in der man all diese Datenleitungen für ein paar Tage kappen und neu aneinander anknüpfen kann.
„Make ends meet“ heißt es im Englischen. Aber was, wenn man die Enden nicht wiederfindet, die Anknüpfungspunkte? Man mag es erneut versuchen, anders. Vielleicht geht es dann trotzdem weiter, vielleicht sogar besser. Fester. Vielleicht ist man, um bei diesem Bild zu bleiben, aber auch falsch verbunden. War es vielleicht die ganze Zeit. The person you are calling ist temporarily not available. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Und schlimmstenfalls war das Kappen der geografischen Distanz das Kappen des Taus, das zwei Boote im Sog der Meeresströmung aneinanderhielt. Man glaubte, sie schwömmen gemeinsam, ein Verbund, stark und sicher. Nun steckt aber schon im Wort „Überwassereinheit“ nur die Zahl Eins. Eine wie auch immer geartete Verbundenheit macht keine Zweiheit daraus.
Direkte Kommunikation ist ein Ideal, der Mensch gilt nunmal als soziales Wesen. Und wo könnten Worte besser wirken als in Tateinheit mit Blicken, Körpersprache, Gesten: Da, wo man sie unmittelbar dem Gegenüber in Herz und Hände legt, ohne sie in Schriftform zu pressen oder auch nur durch ein Telefonkabel jagen zu müssen?
Aber kann es, andererseits, nicht auch sein, dass auf Papier oder Display platzierte Worte präziser Informationen übertragen, gerade weil sie all diese Hürden nehmen müssen, die vis-a-vis dabei wegfallen? Rutschen beim lebendigen Gegenüberstehen und -sitzen denn die Worte nicht allzu oft ab an der Weichheit eines Körpers, bleiben hängen an einem Blick, fallen zu Boden mit einer unbedarften Geste, tauen und verlieren sich in der Wärme, verheddern sich irgendwo, an einem stoffbezogenen Knopf, den Fransen eines Schals, wiegen sich allzu geborgen in den weichen Schwüngen glänzender Wimpern?
In der Spüle stehen zwei leere Bierflaschen. Davor steht der Mensch und blickt etwas ratlos auf dieses unschuldige Ensemble: Stumme Zeugen viel zu schnell verronnener Zeit. Das Jetzt, das man so lange ersehnte, ist längst wieder Vergangenheit. Wäre die Leere in uns doch einmal so messbar wie in diesem Behältnis, denke ich. Gedankenverloren streiche ich über den Flaschenrand, den seine Lippen berührten. Das Herz sucht am Grunde nach Irgendetwas.
Die Nacht wird noch einmal kalt, aber allenthalben reden sie schon vom Frühling.
Auf der Nordsee treiben Eisschollen. Erstarrter Meeresschaum türmt sich zu abstrakten Gebilden. Es ist der stärkste Frost, den ich bislang auf der Insel erlebte. Beeindruckend und in seiner Lebensfeindlichkeit abschreckend zugleich. Die Sonenuntergänge sind klar, farbenprächtig und schön — für den, der sie sich anschauen kann, einen Hund oder menschlichen Gefährten an der Seite; die Glücklicheren haben beides. Kein Versenden eines Fotos tut Not, keine Notiz daran: Schau mal, wie schön. Man steht einfach gemeinsam, schaut, und es ist schön.
Der Hund schnüffelt derweil an einer im Frost verendeten Bekassine. Gestorben an Erschöpfung, allein.
Die Reise war wohl zu weit.