Momentaufnahme, Kulisse

Es ist heiß dieser Tage. Seit Wochen brüllt die Sonne vom Himmel, und das Meer vor der Wohnungstür nützt mir auch gerade nichts, da ich die Insel für eine Weile verließ.
In der Stadt, in der ich mich nun befinde, prägt hanseatische Eleganz und preußisches Bürgertum bis heute das Straßenbild.
Die engen, kopfsteingepflasterten Gassen mit den schmalen, alten Häusern, den Kunstgalerien und kleinen Cafés atmen angesichts der Temperaturen zurzeit nahezu mediterranes Flair. Üppig blühende, uralte Rosenstöcke ranken an den Fassaden und tüpfeln die daruntersitzenden Menschen, ebenso wie den Gehweg, mit hübschen Schattenspielen.
Urlaubsleichtigkeit stellt sich ein, als ich mich vor ein kleines Restaurant setze. Die Stühle sind aus filigranem Geflecht, die Tische gusseisern mit karierten Tischdecken darauf. Nicht einmal die kleinen Steinzeuggefäße mit Lavendel- und Rosmarinsträußchen fehlen als florale Dekoration. Ich fühle mich wie in einem dieser französischen Filme, bei denen man die ganze Zeit heult und am Ende trotzdem glücklich rausgeht: Auf eigenartige Weise melancholisch und beschwingt zugleich.
Die Frauen, von ungeschminkter Eleganz, tragen in diesen Filmen weiße Blusen mit zarten Bändchen am Ausschnitt und Weidenkörbchen am Arm, die Männer Leinenhemden in Hellblau oder Weiß, dazu Chinos und Strohhüte, und auf den Gepäckträgern ihrer Fahrräder klemmt eine Zeitung oder ein Buch. Familienstreits werden immer beim Essen ausgetragen, aber noch viel mehr wird sich beim Essen versöhnt; unter Birnenbäumen vor blühenden Feldern oder niedrigen Steinmäuerchen.

Aus dem Efeu an der Regenrinne des Lokals zwitschern Spatzen; ein Schmetterling verirrt sich in dem Schattenspiel, das die Rosenranken aufs Trottoir zaubern, zartgelb wie das Zitronentörtchen neben meinem Espresso. Die Rosen duften. Es ist bis an die Schmerzgrenze romantisch. Zwangsläufig komme ich nicht umhin, an diesem Ort auch an den anderen zu denken, dem ein hellblaues Leinenhemd ganz wunderbar stünde, wenn er mir jetzt gegenüber säße.

Wäre es doch noch einmal wie früher, denke ich. Als seine großen, braunen Augen noch nicht ebenso krampfhaft wie kalt an mir vorbeisahen. Als sein Mund noch lächelte und dabei die weißen, eigenartig großen und quadratischen Zähne entblößte, anstatt sich despektierlich in irritierender Asymmetrie zu verziehen, die scharf konturierten Lippen verkniffen und von nahezu blutleerer Blässe. Wie in den Filmen hätte er auch so einen Strohhut auf, damit man die Tonsur nicht sähe, die er in seiner Eitelkeit ständig zu verbergen versucht, und nur ein Teil seiner dunkelblonden bis ergrauend braunen, störrischen Locken schaute unter der Krempe hervor. Ich indes verfiele am rotkariert bedeckten Tisch einmal mehr seinem Charme, seiner Eloquenz, seiner jungenhaften Kindlichkeit — noch Lichtjahre davon entfernt, diese als gänsehauterzeugend routinierte Manipulation, Selbstdarstellung und Unreife zu erkennen.

„Sei froh, dass du so ent-täuscht worden bist“, sagt mir eine Freundin, „das ist ein Segen“. Ich weiß, dass sie Recht hat, aber ich frage mich, ob das Wissen um die Wahrheit wirklich immer besser ist als das Leben mit einer schönen Lüge. Ich denke an seine großen, eher grob wirkenden Hände, die ich nie bemerkenswert fand, aber die ich nun trotzdem gerne auf dem karierten Tischtuch gegenüber sähe; die eine ein Weinglas haltend, die andere sein wortgewandtes Erzählen untermalend.
Ich erinnere mich, wie überraschend weich ich diese Hände fand, obwohl es nahelag, da dieser Mann nie körperlich arbeiten musste. Er lebt davon, andere mit Worten in seinen Bann zu schlagen: Manchmal für eine gute Sache, manchmal für das Gegenteil davon.

Es ist schön, hier alleine in der Sonnenwärme in diesem wundervollen Gässchen zu sitzen. Mir fehlt nichts, mir fehlt auch der Mann nicht wirklich — zumindest nicht der, den die Ent-Täuschung enthüllte. Aber mir fehlt das Gefühl aus der Zeit, als ich ihn für so anders hielt; als er für mich am Schönsten war, innen wie außen. Ich lege mich in die Erinnerung an diese Zeit wie in ein warmes, nach Orangenblüten, Lavendel und Pinienwald duftendes Schaumbad und wünschte, es würde nicht so schnell erkalten.

„Die Welt liebt einmal im Kreis“ sagte mir einst ein bereits vor Jahrzehnten Verflossener, aber mit diesem Spruch hatte er Recht. Denn oft ist es doch wirklich so, dass eine Liebe unerfüllt bleibt, weil der oder die Verehrte ebenfalls an unerwiderter Liebe zu einem oder einer Dritten leidet. Oder eine Liebe endet, weil der andere sich anderweitig verliebt, diese Person aber auch nicht, nur kurz oder nur eingeschränkt bekommen kann. Aber es tröstet auch nicht wirklich — geteiltes Leid ist hier keinesfalls halbes Leid — und noch weniger sollte man wohl der Gefahr erliegen, sich gegenseitig darüber trösten zu wollen, denn auch das würde nur weiteres Leid gebären: „Been there, done that“, um es Neudeutsch zu formulieren.

Am nächsten Abend bin ich erneut in dem Lokal, in Gesellschaft lieber Menschen, die sich ebenfalls für das filmreife Setting begeistern. Wir sitzen vor Gambas und Sardinen vom Grill, vor frisch gebackenem Brot und Schälchen mit Olivenöl und Aioli; die letzten Strahlen der inzwischen tiefstehenden Sonne dringen durch die eng verwinkelte Gasse und lassen den Wein wie Juwelen aufleuchten; selbst die Menschen wirken wie von goldenem Schein umkränzt. Hinter uns plätschert ein Brunnen. In der silbrigen Verspieltheit dieses Klanges rinnt endlich wieder die ersehnte Leichtigkeit ins Herz, und für einen Moment möchte ich gar nichts anderes mehr sein als ein Teil dieses perfekten Bühnenbildes. Ich trage sogar ein hellblaues Leinenhemd.