Momentaufnahme, Herzensgeiz

„Leider sprechen hier viele Wirte kein Deutsch und sind frech. Ich gebe sonst gern, aber jetzt nicht mehr.“ — Das steht im Fürbittbuch unserer Kirche; ich musste dreimal zurückblättern und nachlesen, aber es ist das Fürbittbuch, ganz sicher. Und diese beiden Sätze finden sich zwischen Dankesgebeten und herzzerreißenden Appellen wie „Liber guter Got, bitte mach die Omi gesunt“ in krakeliger Kinderschrift, einem „Herr, bitte pass mir auf meinen lieben Günther auf, ich vermisse ihn so sehr“ in der Schrift einer Dame, der man das zu Schulzeiten erlernte Sütterlin noch ansieht, oder „Heilige Maria, bitte gib mir Kraft für die Chemo.“

Nun also diese eigenartige, nicht einmal an Gott, Maria oder einen Heiligen adressierte Beschwerde. Ich drehe und wende die Motivation des Schreibenden in meinem Hirn, aber ich kann damit einfach nichts anfangen. Wusste dieser Mensch nicht, was ein Fürbittbuch ist? Was will dieser Mensch von Gott? Absolution für seinen Geiz? Für seine Ungeduld mit Menschen, deren Muttersprache kein Deutsch ist? Oder einfach nur Nörgeln?

Unweigerlich denke ich an meine Leidensjahre in der Gastronomie hier auf Langeoog zurück. Ich kenne diese Sorte Gast. Mit der Frage (eher: anmaßenden Unterstellung) „Sie wollen doch Trinkgeld“ wurde ein Sermon an Sonderwünschen eingeleitet, gerne in breitestem Dialekt und in verschwurbelster Grammatik, garniert mit im Rohr krepierenden Zoten, Witzchen und Anspielungen, sodass man als Muttersprachler schon kaum hinterherkam. Parierte man dann nicht binnen Nanosekunden mit zuckersüßenstem Lächeln und „Jawohl, sehr, sehr gerne“, weil man den Sermon im Hirn erst aufdröseln und überdies die einleitende Demütigung mit der unterstellten Trinkgeldgeilheit verdauen musste, schoss einem sofort ein speichelsprühendes „SIE KÖNNEN WOHL KEIN DEUTSCH?????!!!!!“ entgegen.
Mit einem ostpreußischen Namen auf dem ans Revers gehefteten Schild konnte man dann manchmal so tun, als verstünde man wirklich nicht und den Gast an KollegInnen verweisen, die das Pech hatten, Müllermeierschmitz zu heißen.

Wo sollte man bei solchen Leuten auch anfangen? Ihnen erklären, dass das Trinkgeld eh in einen großen Topf kommt, den man am Ende einer brutal langen Schicht mit der Küche und allen Angestellten teilt, wo’s dann vielleicht für ein Eishörnchen für jeden reicht, sofern es nicht gleich die Geschäftsführung einsackt? Es besteht kein Rechtsanspruch auf Trinkgeld, und versteuern muss man das Eishörnchen übrigens auch noch. Soviel dazu.
Und kann man solchen Leuten erklären, dass sie einen wie Prostituierte behandeln, wenn sie meinen, alles mit einem machen zu können, nur weil sie einem „16,90? Ach, machen Sie mal 17“ oder abgezählte 20 Cent neben der Kaffeetasse in Aussicht stellen?

In der Gastronomie arbeiten Menschen. Keine Esel, die die Peitsche auf ihrem Arsch nicht mehr spüren, nur, weil man ihnen eine Möhre vors Maul hängt. 
Niemand muss Trinkgeld geben. Aber nur, weil man die „Macht“ dazu hat, dies zu tun oder zu lassen, muss man sich nicht aufspielen, als hätte man die Servicekraft zusammen mit dem billigen Schnitzel gekauft und ihre Würde dazu.

Leider erreicht man solche Leute in der Regel auch nicht damit, dass man sie darüber aufklärt, was für Zumutungen Menschen in dieser Branche für um die 1000 Euro netto — seitens Gästen, Vorgesetzten, KollegInnen — über sich ergehen lassen müssen: Von sexueller Belästigung und Übergriffigkeiten, maßlosen Forderungen und Cholerik, Gewaltandrohungen, Mobbing und Diskriminierung über die unmenschlichen Arbeitszeiten in der Hochsaison, wenn es Krankheits- und sonstige Ausfälle zu kompensieren gilt bis hin zu den alltäglichen Ekelhaftigkeiten wie vollgeschissenen Zimmern oder unter die Frühstückstische geklebten Popeln. 
Man möge mir die drastische Schilderung verzeihen: Aber so war es.

Indes, wieviel Mitgefühl es dafür seitens der Gäste gibt, illustriert wohl am Besten das Erlebnis, in dem ein wohlsituierter Herr seinen Enkel bei der Hand nahm, ungeniert auf mich zeigte und laut sagte: „Siehst du, deswegen ist es wichtig, dass du in der Schule was lernst. Dann musst du nicht so einen Job machen.“ Wer ihm dann von früh bis spät seine Sonderwünsche erfüllt, wenn keiner mehr „so einen Job macht“, fragte ich aber lieber nicht.
 Vermutlich erzählt jener Herr, wenn er das nächste Mal sein Wahl-Kreuzchen bei irgendeinem wirtschaftsliberalen Haifischbecken macht, aber zugleich, dass, wer Arbeit will, gefälligst nehmen soll was da ist bzw. wozu das Arbeitsamt ihn zwingt und nicht herumjaulen, nur weil er irgendwann mal was anderes gelernt hat.

Aber kommen wir zurück zum Fürbittbuchschreiber.
„Sind frech“ ist in sehr vielen Fällen hier ein quid pro quo, und natürlich streitet niemand ab, dass es auch im Servicebereich ausgemachte Arschlöcher m/w gibt. (Ansonsten würden sich in den Betrieben ja auch nicht die Fälle von Mobbing, Denunziation etc. häufen.) Wird zugleich aber das mangelhafte Deutsch kritisiert, so wage ich anzudeuten, dass man sich in einer Fremdsprache oft zunächst rustikaler ausdrückt als beabsichtigt, denn um irgendwelche Zwischentöne und diplomatischen Andeutungen in einen Satz flechten zu können, muss man die Sprache schon sehr gut beherrschen. Auch kulturelle Ansprüche an Bescheidenheit spielen eine Rolle.
Ich erinnere einen Fall, wo ich mich als Student im vierten oder fünften Semester Chinesisch entsetzlich blamierte. Ich wurde im privaten Umfeld von einer älteren chinesischen Dame gefragt, ob ich die Sprache spräche. ich antwortete „hai keyi“, was „geht so“ heißt, in Deutschland meint man damit meist: „Naja, eher so nicht so toll.“ Für Chinesen war es entsetzliche Angeberei. Das ging mir auf, als ein chinesischstämmiger Kommilitone, in Deutschland geboren, aber des Chinesischen weitaus fließender mächtig als ich, auf dieselbe Frage mit „bu hao“ antwortete, was schlicht „nicht gut“ bedeutet.
So also kann man sich in Fremdsprachen auch bester Absicht vollkommen zum Obst machen — überflüssig zu erwähnen, dass ich auch nach Abschluss der Auslandssemester in der VR China und Befähigung zur Lektüre der Renmin Ribao sowie der gesammelten Werke des Großen Vorsitzenden noch kontinuierlich mit „bu hao“ auf die Frage nach dem Stand meiner Chinesischkenntnisse antwortete: Man lernt.
(14 Jahre nach Abschluss des Studiums, ohne je als Ostasienwissenschaftler tätig gewesen zu sein, bin ich überdies bei „bu hui“ („kann ich nicht“) angelangt — Dies in aller Unbescheidenheit!)
Geduld und ein wohlwollendes Zuhören wären also gerade bei Nicht-Muttersprachlern angezeigt.

Nun will ich das Richten dem Herrgott überlassen, aber mich hat dieser Eintrag im Fürbittbuch doch sehr verstört. Ist unsere Gesellschaft denn nur noch von Neid, Missgunst, Unzufriedenheit, Fordern, Gier und sonstigen Geschwüren des Ichichich zerfressen?
Ist sie nicht; dafür muss man nur die vielen dankbaren und herzensguten Einträge im Fürbittbuch lesen oder sich unter seinen Freunden und in der Familie umsehen.Dennoch macht mir die zunehmende soziale Kälte zu schaffen. Ich nenne das Herzensgeiz. 
Von meinen Eltern wurde ich zur Großzügigkeit erzogen: Wir geben gern, auch wenn wir selbst nicht viel haben. Und auch, wenn das oft ausgenutzt wird. Wir geben: Materiell und Immateriell. Zeit, Fürsorge, Vertrauen. 
Ich liebe verschwenderisch, gebe und vergebe mehr, als mir gut tut. Aber manchmal glaube ich, damit nicht in diese Zeit zu passen, nicht in diese Welt.

Ich habe ein Problem mit Geiz. Irgendwann hatte ich einen krankhaft geizigen Freund, der in Restaurants die Papierservietten in Lagen teilte, davon eine benutzte und die anderen einsteckte, damit er noch hat für später und alles hamsterte, was irgendwo umsonst zu kriegen war. Der einem zuhause das Klopapier rationieren wollte, ebenso wie das Essen: Man sei ja sowieso zu fett. Als ich in einem Urlaub bei brütender Hitze dann vor Hunger in Ohnmacht fiel, war ihm das peinlich, aber nicht wegen seines Geizes, sondern „wegen der Leute“, von denen aber immerhin gleich welche angeschossen kamen, mir kaltes Zuckerwasser einflößten und meine Hand tätschelten, während er nur genervt danebenhockte und mir später Aufmerksamkeitssucht unterstellte. Dass dieser Mensch nicht nur materiell (trotz hohen Einkommens), sondern auch emotional geizig war, muss ich wohl nicht eigens erwähnen.
Nach der Trennung von dieser Person litt ich eine Weile an Verschwendungssucht; man muss kein Psychologe sein, um zu wissen, warum. Das hat sich — deo gratias — gelegt, aber ein Erbsenzähler werde ich nie, zumindest nicht, was Geld angeht.
„A gentleman does not even know his bank balance“ sagt Jude Law als Lord Alfred Douglas in der wundervollen Verfilmung von „Oscar Wilde“ mit Stephen Fry, und mir geht es meistens genauso. Dutzende verstaubende Haushaltsbücher, bei denen ich nicht über eine Seite hinauskam, singen davon ein einsames Lied.

Die Natur vor meinem Fenster kennt auch keinen Geiz. In verschwenderischer Sommerfülle wogen Dünengras und Felder, eine Freundin erzählt von der üppigen Obsternte in ihrem Garten. 
Die Welt bietet jeden Tag so viele Anlässe, um sein Herz zu öffnen. So viele gute Dinge bekommen wir geschenkt: Schönheit, Freundschaft, Gesundheit, Leben. 
Es nimmt uns nichts, auch etwas zu geben.