Die Hitze hält an. Es ist der trockenste Sommer, an den ich mich erinnern kann; nicht nur auf Langeoog. Die Deiche sind braun, ebenso wie die Dünen. Viele Bäume und Sträucher haben schon jetzt ihre Blätter abgeworfen, um zu überleben. Die Dohlen am Strand belauern die Süßwasserduschen in der Hoffnung, herabfallende Tropfen zu erhaschen. Das bisschen Regen, das in den letzten zwei Monaten fiel, reichte nicht einmal für meine Balkonkästen: Täglich leere ich Gießkanne um Gießkanne und fülle das Vogelbad. Heute verlasse ich erst am Abend das Haus. Meine Haut wehrt sich trotz Sunblocker gegen die Strahlen, es ist fühlbar eine Grenze erreicht, an der ein hellhäutiger Mensch wie ich drinnen bleiben sollte.
Unglaublich, dass sich im März noch Eisschollen am Strand türmten, denke ich, während das Festland, auf das ich von Gerk-sin-Spoor aus schaue, in der warmen Luft flimmert. Auf der anderen Seite ergießt sich die untergehende Sonne über auflaufende See. Endlich wird es ruhiger am Strand.
Die Saison laugt aus. All das Geschrei, Gewusel, Geklingel. Stau in allen Geschäften, auf allen Straßen; kaum ein Restaurantbesuch, den man ohne Reservierung unternehmen könnte. Die Insel ist voll.
Lauter und lauter wird die Sehnsucht nach stilleren Zeiten, nach Herbst.
Die Natur nährt diese Sehnsucht. Auf den verbrannten Flanken der Braundünen breitet sich seit ein paar Tagen ein dunkelgrüner Teppich aus: Heide und Moosbeeren. Der Sanddorn reift. Aus ihrem Dornengeäst leuchten flammend rote Hagebutten, die Blätter zum Teil schon in herbstlichem Gelb; andere, an Schattenplätzen, stehen noch im satten Grün des weniger heißen Frühsommers.
Es ist eine seltsame Zwischenzeit.
Zwischen zwei Jahreszeiten. Zwischen Beruf und Berufung. Zwischen Liebe und Loslassen. Ein fortwährendes Jonglieren mit Wissen und Wahrheit, mit Möglichkeit und Machbarkeit, mit Traum und Tatsachen.
Hier Chaos, dort Klarheit. Es wird Zeit für eine Pause.
An diesem Abend fühle ich mich allein. Das kommt selten vor, und keinesfalls darf man dieses „allein“ mit einsam geichsetzen, aber ich denke an den Mann, der vor wenigen Tagen noch hier war, und dass es schöner wäre, allein durch seine Anwesenheit nicht so viel nachdenken zu müssen.
Ich weiß noch nicht, was mir dieser Mensch bedeutet, aber er bringt Ruhe in all den Aufruhr, und was könnte mir jemand Besseres bringen zu dieser Zeit?
Die Wellen sind heute besonders schön. Sie rollen groß und sanft zugleich an den Strand, kraftvoll wie ein Arm, der einen hält.
Natürlich: Ich kann ihm ein Bild von den Wellen schicken. Ich kann ihm Worte schicken: Schau mal, wie schön. Ich kann versuchen, die Farbe des Meeres in Worte zu fassen. Ich könnte aber auch einfach die Reflektion der Abendsee in seinen Augen sehen. Dann bräuchte ich gar nichts sagen und gar nichts tun. Dann müssten wir einfach nur in die gleiche Richtung sehen, und er wüsste, was ich meine.
Es ist ein eine noch fremde Nähe zwischen uns. Er wohnt nicht allzuweit weg, also wird er wohl bald wieder hier sein. Geduldig und langmütig ist er; er ist so anders als der, der fortging, als noch das Eis am Strand lag. Indes: Diesen liebten wir einst beide. Und ich weiß nicht, ob es als gemeinsame Basis reicht, dass einem einst derselbe Mann das Herz brach. Es gibt viel zum Nachdenken dieser Tage.
Die kommende, stille Zeit des Herbstes liegt als Hoffnungsschimmer in Sichtweite wie der verglimmende Sonnenrest am Horizont. Die Nacht verschafft Abkühlung. In dem verglühenden Sonnenstreifen schimmert schwach die Erinnerung an warme Nächte und Hände, die Geborgenheit eines Strandkorbs. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie das geht. Doch wo verläuft er, der schmale Grat zwischen Sinnlichkeit und Sünde? Ich weiß nicht, ob ich es will, das stetige Austarieren, das Abwägen zwischen Zuneigung und Leichtsinn. Soll ich es zulassen, soll ich es aufgeben? Ist uns nicht anderes bestimmt, das doch ein Lossagen verlangt?
Aber jetzt ist noch keine Zeit für Antworten: Noch ist nicht Herbst. Und der Sommer ist noch nicht vorbei.