Momentaufnahme, Allein

Es ist ein einsamer Moment, wenn man erkennt, dass ein Freund kein Freund mehr ist. Vor einem liegt noch das Bilderbuch sonniger Tage ausgebreitet, alles ist warm, vertraut und schön. Das geteilte Leid, der gemeinsame Zorn, die Freude am Glück des anderen, der Stolz auf dessen Erfolge. Das verständnisvolle Lächeln, wenn er über die Strenge schlug, die Nachsicht und das Vergeben, wenn er Mist machte. Das warme, befreiende Gefühl, wenn auch er vergab. Wenn er einem Kritik nicht nur nicht krumm nahm, sondern sich sogar dafür dankbar zeigte. All das war so lange so selbstverständlich, so einfach. Nie hätte man gedacht, dass es so trostlos enden würde.

Wir hatten doch für alles Worte, denke ich, warum dann nicht für uns selbst? 
Verdient nicht auch eine Freundschaft irgendeine Form von „Schlussmachen“, mit der sich eben genau das machen lässt: Nämlich Schluss? Schluss mit Grübeln, Nachdenken, dem Drehen und Wenden von Erinnerungen. 
Was, in all den Jahren, war nun Lüge, was war Wahrheit? Früher hätte sich diese Frage gar nicht gestellt. Ich war sein Freund, weil ich glaubte, was er sagte.

Und dann steht man da und weiß plötzlich gar nichts mehr. Und es ist nicht einmal die physische Abwesenheit, die nach einem solchen Nicht-Ende am meisten schmerzt. Vielmehr ist mit dem erklärungslosen Verschwinden plötzlich alles in Frage gestellt, weil mit diesem kalten und einsamen Ausblutenlassen der Freundschaft plötzlich auch die Erinnerungen davonfließen, und alles, was man über den anderen zu wissen glaubte. Das Vermissen ist grässlich.

Plötzlich lodert Wut. Über die Chuzpe, mit der er diese Schneise der Verwüstung in den sorgsam gehegten, schönen, dichten Wald unserer Verbundenheit fräste; wie er quasi im Vorbeigehen Geborgenheit und Vertrauen in Trümmer legte, als wischte man Krümel vom Tischtuch. Und was, tobe ich innerlich, macht diesen Menschen eigentlich so sicher, dass ich mich nicht für diesen schnöden Abgang räche?
Die Antwort ist so schlicht wie endgültig: Weil ich sowas nicht mache. Weil für mich Denunzieren das Hinterallerletzte ist. Und weil er das weiß.
Für eine Sekunde bringt das das warme Gefühl der Verbundenheit zurück: Er kennt mich eben doch.

Aber ich könnte, oh wie ich könnte! Schau — in erneutem Aufwallen von Rage fliegen die Finger über die Tasten: Unwürdig. Unreif. Unchristlich. Unverschämt. Unbeherrscht, unverfroren, un-, un-, un- — Nein!
Ungeschehen. Das ist doch eigentlich alles, was ich will. Mach es ungeschehen. Alles auf Anfang. Dorthin, wo der Weg sich gabelte.

Komm zurück.
Mit der Delete-Taste gebe ich dem Blatt seine Unschuld zurück, während ich zusehe, wie sich die Zeilen rückwärts selbst fressen: Undone. Auf facebook kreist der Finger über „Unfriend“; ein entsetzliches neues Verb, dass es dieses Jahr sogar in den Duden schaffte: Entfreunden. 
Aber ich kann es nicht. Und ich will auch nicht.
Ich bin dein Freund.

„Ich will diesen Zorn nicht. Ich will der Sünde des Zorns nicht anheimfallen!“
Der Beichtvater nickt. „Der Zorn ist menschlich“, sagt er. „Auch die Rachephantasien. Ich habe sowas auch manchmal“, sagt der Mann, der müde an seiner Stola zupft und so gar nichts von einem Choleriker hat. „Jeder hat das. Beten Sie, wenn sie in dieses Gefühl fallen“, sagt er, „lesen Sie die Psalmen.“ „Ich hab ja nichts umgesetzt“, ergänze ich leise. „Dann sehe ich keine Sünde“, sagt der Pater. Plötzlich kommt es mir dumm vor, damit zur Beichte gegangen zu sein. Und den Einleitungssatz mit der Reue und Demut hatte ich auch vergessen.
„War’s das?“ fragt der Geistliche schließlich, schon halb von seinem Platz erhoben, als stünde ich in der Bäckerschlange und hätte nicht soeben das Elends-Scrabble meines Herzens vor ihn auf den Tisch geleert. „Glaub schon“, sage ich, während ich die Rippen der Heizung fixiere. 
Er spricht mich los und ich bin wieder allein mit alledem.
In der Kirche verspricht das schwachrot flackernde Licht die Anwesenheit Gottes. An der Westwand leidet der Heiland an seinem Kreuz.
Es tut weh.

 

14SEpt183