Momentaufnahme, Almosen

Als mich der Omnibus am ZOB Bremen auslädt, geht ein gewaltiger Platzregen auf die Stadt nieder. Ich renne zum Hotel, das ich nah am Bahnhof buchte anstatt, wie sonst, im Herzen der schönen Altstadt. Aber dieses Mal soll es nur für eine Übernachtung sein, mit Weiterfahrt gleich am nächsten Tag und viel Gepäck, also wählte ich die Alternative am Verkehrsknotenpunkt. Es ist ein typisches-Ketten-Businesshotel, effizient, aber seelenlos. Immerhin: Ein Tagesticket für den ÖPNV ist im Zimmerpreis enthalten. Sobald der Regen nachlässt, mache ich mich damit auf dem Weg in pittoreskere Gegenden Bremens, denn ― wie überall ― ist auch in der Hansestadt die Gegend um den Bahnhof kein optisches Juwel.

Fünf Jahre bin ich nun dem Stadtleben entwöhnt, aber die Automatismen aus der Großstadt funktionieren noch: Portemonnaie so dicht wie möglich am Körper verstecken, Kleingeld lose in der Tasche ― Für die Schnorrer und für den Fall, dass man sich unterwegs ein Brötchen kauft, einen Fahrschein oder sonst etwas Kleines, für das man keine Scheine oder die EC-Karte hervorholen muss. Und der Schnorrer sind reichlich. Ich kann mich an das Ausmaß des Elends kaum gewöhnen, denn selbst wenn man die mafiös organisierten Bettler abzieht und diejenigen, die aggressiv auftreten, so sind noch immer genügend übrig, die einem wirklich Leid tun oder einen daran erinnern, dass man selbst auch längst einer von ihnen sein könnte, wenn man im Leben nicht so verdammt viel Glück und großzügige Eltern gehabt hätte. Auch heute falle ich nicht zwingend unter „gut situiert“, trotz bescheidener Möglichkeiten des Luxus wie dieser Reise, über die ich froh bin. Also kann ich nicht allen etwas geben, und es ist immer schwer, zu entscheiden, wer etwas bekommt und wer nicht.
Schon um 9 Uhr morgens riecht es an der Straßenbahn nach Gras. Ein Typ im Kapuzenpulli schlurft heran. „Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Morgen“, sagt er, „ich möchte nicht unverschämt sein, aber darf ich Sie vielleicht um ein wenig Kleingeld … “ „Ja“, sage ich, und drücke ihm irgendwas aus dem gebunkerten Münzvorrat in die Hand, „Ihnen auch einen guten Morgen.“ Ich versuche, ihm in die Augen zu sehen und zu lächeln, weil ich denke, dass auch das wichtig ist ― und außerdem war er ja sehr höflich. Zugleich komme ich mir auf eine unangenehme Weise gönnerhaft dabei vor. Es ist schwer, im Umgang mit Armut alles richtig zu machen.

Ich bin unterwegs zur Messe. An die Probsteikirche ist das Johannisstübchen angeschlossen, eine Anlaufstelle für Wohnungslose und Menschen mit Suchtproblemen. Die geschäftstüchtigeren darunter kennen die Messezeiten und warten davor und danach vor dem Kirchportal auf die Gläubigen, oft zu mehreren. Auch hier gerate ich in den Zwiespalt, dass man nicht allen geben kann, und natürlich sieht man etlichen Personen an, dass sie sich von den milden Gaben nichts zu essen kaufen werden, sondern Sprit oder Stoff. Allerdings bin ich der Ansicht, dass man den Leuten nicht auch noch vorschreiben sollte, wofür sie lausige geschenkte 50 Cent ausgeben, und so mache ich da keine Unterschiede. Ich versuche, vor und nach der Messe jeweils einem anderen Menschen etwas in den hingehaltenen Becher zu werfen, um das Kleingeld wenigstens halbwegs gerecht zu verteilen, aber irgendwen muss man immer leer ausgehen lassen ― in der Hoffnung, dass wenigstens jemand anderes etwas gibt.
Einige der festen Gemeindemitglieder von St. Johann scheinen die Menschen vor der Tür schon zu kennen: Einer wird mit Namen begrüßt, ein Schulterklopfen, ein kurzes Aufleuchten im zerfurchten Gesicht, ein zahnloses Lächeln.

Der Priester, der die Werktagsmesse zelebriert, stammt aus Afrika, ich kann seinen Namen nicht aussprechen, er aber dafür gut Deutsch, wenn auch mit putziger Grammatik und deutlichem Akzent: „Die Menschen haben gesagt: Wir mogen dich nicht, du bist eine Zollner. Zollner sind Sunder. Warum, fragst du vielleicht, hat aber Jesus nicht gesagt zu die Zollner: Du bist eine Sunder? Warum hat Jesus gesprochen mit die Zollner?“

Weil Jesus gut ist, die pure, reinste Güte, und weil uns Jesus in jedem hier drinnen und draußen begegnet, denke ich, und dennoch kann man nicht jedem helfen; an irgendwem geht der Kelch immer vorbei oder, besser gesagt: Der Mensch am hingehaltenen Becher. Man muss also Christus im Bruder stehen lassen: Süchtig, hungrig, frierend und allein. Jeden Tag. Ich weiß auch deswegen nicht, ob ich ein Leben in der Stadt nochmals ertrüge.

In Berlin und den anderen Großstädten, in denen ich gelebt hatte, begegnete mir natürlich auch viel Elend, und ich kann nicht sagen, dass ich mich je daran gewöhnt hätte. Auch da tat einem das Ignorierenmüssen zuweilen Leid ― aber auch da war es einfach zu viel, jeden Tag in der U-Bahn, am Bahnhof, vorm Supermarkt, auf allen täglichen Wegen.
Natürlich sieht man zugleich auch viele, die helfen: mit Gaben und Worten. Die Geld dalassen, Interesse an der Person, ein paar nette Worte, eine Tüte Gebäck, Futter für den Hund, Adressen von Unterkünften und Beratungsstellen. Es fällt schwer, damit umzugehen. Aber die Augen vor dem Elend der Welt zu verschließen und vor den eigenen Gefühlen im Umgang damit, kann auch keine Lösung sein.

Auch auf Langeoog gibt es Armut. Ab und zu sucht auch dort jemand im Abfall nach Pfandflaschen oder steckt seine Kinder notgedrungen in viel zu große oder zu kleine Wintersachen. Dieser Tage outete jemand einen anderen Insulaner im Tonfall klebrigen Mitleids als ALGII-Empfänger; eine Sauerei, wie ich finde ― so wie jedes Fremdouten von potentiell stigmatisierenden Umständen eine Sauerei ist ―, aber dem Outenden war dies wohl nicht bewusst, also sei es ihm nachgesehen.
Generell wird die Existenz von Armut aber doch eher ausgeblendet und die meisten der Entscheidungsträger im Rat haben wohl nicht einmal realistische Vorstellungen von den Gehältern Langeooger Durchschnittsangestellter in Gastronomie oder Verkauf, geschweige denn davon, wie weit man mit dem Existenzminimum auf der Insel kommt. Auch der Durchschnittsgast auf Langeoog ist, neuesten Erhebungen zufolge, weit überdurchschnittlich wohlhabend. Ich indes möchte aber kein Disneyland für Reiche — es muss auch einen Platz geben für jene, die mit weniger Geld auskommen müssen, denn ohne jede Konfrontation mit materieller Armut — so finde ich — verarmt man allzuoft im Herzen: An Güte, an Hilfsbereitschaft, an Empathie.
Wenn Langeoog jemandem Heimat ist, der arm ist, so muss die Insel auch für ihn Heimat bleiben können und ein Leben auch mit begrenzten Geldmitteln möglich sein ― und zwar ohne ihn zu beschämen, indem man ihn als bedürftig outet und damit (selbst wenn es nicht in böser Absicht geschah) nur den üblichen Dorf-Hyänen Tratschmaterial und Elends-Voyeurismus bietet.

Bremen ist schön. Nach dem Messebesuch und nachdem ich mich halbwegs an die Konfrontation mit dem vielen sichtbaren Leid gewöhnt habe, lasse ich mich treiben. Neben der Armut findet sich dort auch noch viel hanseatische Eleganz, in Menschen wie in Gebäuden. Die Sparkasse auf dem Rathausplatz ist die schönste Sparkasse, die ich kenne; der Apotheker nebenan erläutert soeben zwei Polizeibeamten die Umstände eines Diebstahls. In den Cafés sitzen an diesem Vormittag Menschen in der Sonne und lauschen klassischer Musik; es findet irgendein Festival statt, auf dem Platz ist ein Flügel aufgebaut, daneben spielt jemand Trompete, vor dem Dom St.Petri (der evangelisch ist) macht eine Abschlussklasse mit Doktorhüten, wie sie in den USA gebräuchlich sind, Fotos auf der Treppe. Bremen ist international.

In der Einkaufsstraße werde ich mit meinen eigenen Vorurteilen konfrontiert: Ein Gruppe arabisch aussehender junger Männer zeigt gestikulierend auf eine Baustelle. Ich erwarte im Vorbeigehen ein fremdsprachliches Palaver, bestenfalls mieses Ghettodeutsch, aber als ich die Gruppe passiere, höre ich einen der Männer in akzentfreiem Muttersprachlerdeutsch sagen: „Und hier wird nun ein modernes Gebäudeensemble hochgezogen, das passt doch gar nicht zur historischen Bausubstanz der umliegenden Häuser.“
Meine Gedanken sind mir unverzüglich peinlich.
Auch in mir steckt, aller Großstadtjahre zum Trotz, eine Menge Provinz, denke ich beschämt ― und offenkundig noch mehr Rassismus, als ich anderen zugestehen würde und obwohl ich mich keinesfalls für rassistisch halte. Erneut merke ich: Ein wenig ehrliche Innenschau, auch zu Tabuthemen, schadet nicht.

Bald muss ich weiter. Die Bahn nach Bochum fährt ab. Die Fahrt ist langweilig, ich kann nicht lesen, weil es rückwärts geht, und so sehe ich eine Menge Landschaft vorm Fenster vorbeiziehen und alten Industriegebäuden aus Backstein beim Verrotten zu. Dass ich diesen Urlaub machen kann, verdanke ich den Almosen anderer Leute.
Acht Tage mit Vollpension werden mich Zisterziensermönche beherbergen; als Lohn wollen sie nichts außer „ein gewisses Interesse am Ordensleben und am Mitfeiern der Gottesdienste“; so die Website.
Als ich ankomme, durchflutet Herbstsonne den hinter dem Kloster gelegenen Wald; ein kleiner, freundlicher Mönch im schwarzweißen Habit nimmt mich großväterlich in seine Obhut.
Ich betrete eine wundervolle kleine, herzerwärmende Welt und es tut wohl, diese Güte zu empfangen. Beim Abendessen denke ich über das Wort „Gnadenbrot“ nach, das doch eigentlich ein sehr schönes ist.