Momentaufnahme, Goldener Oktober

Am Morgen liegt Raureif über den Weiden. Die Schafe im Klostergarten haben sich unter einem Baum zusammengekauert und geben sich gegenseitig Wärme. Wiewohl die Tage noch warm sind und die Bäume volles, kaum verfärbtes Laub tragen, naht unverkennbar der Winter.
Zu den Vigilien um 6 Uhr morgens ist es noch stockdunkel draußen; die Kirche ist kalt. Aus den Ärmeln des Habits einiger Mönche sieht man dicke Pulloverärmel ragen, ab und zu hustet oder schneuzt sich jemand im Chorgestühl. Ich bewundere, wie gekonnt einer der Gottesmänner einen Niesanfall mit einer Verbeugung synchronisiert, sodass es kaum jemand mitbekommen hätte, wäre da nicht noch ein kurzes Aufleuchten eines eilig hervorgezogenen Taschentuchs gewesen. Kurz: Es sind etliche Mönche erkältet; nichtsdestotrotz singen sie auch an diesem Morgen herzerwärmend schön ihr Nachtgebet, das fießend ins Morgenlob übergeht. Und diese mild stimmenden Tagesanfänge im Gebet sind wohl der Grund, warum mir das extrem frühe Ausstehen hier weniger Greuel ist als anderswo.
Spätestens zum Laudes ist aber auch mir erbärmlich kalt und ich frage mich, wie es die sehr asketisch lebenden unter den Heiligen schafften, in Hunger und Kälte ihre Gottesbeziehung noch zu vertiefen. Ich indes muss mich mühen, mich auf den lateinischen Text der vorgetragenen Psalmen zu konzentrieren und nicht allzusehr in der Bank zu zittern.

Als die Sonne zur Frühstückszeit hervorbricht, wird es dagegen schlagartig warm. Gegen Mittag ist es geradezu heiß zu nennen; ich schwitze bereits im Hemd unter azurblauem, wolkenlosen Himmel und entscheide mich daher zu einer längeren Wanderung.
Erneut geht es entlang der Felder, einen steilen Hang hinab durch friedliche Wohnstraßen, wieder hinauf zur Landstraße und bei „Ingas Hühnerhof“ wieder hinab in Richtung Wald und Ruhr-Universität. Ein Bus fährt hier nur einmal in der Stunde. Vom Tal aus bewundere ich die sattgrünen bewachsenen oder frisch umgepflügten Äcker mit ihren malerischen Gehöften dazwischen; Fachwerk oder Schiefer. An einem der Bauernhäuser, das pittoresker nicht sein könnte, trägt eine Tafel über der grün gestrichenen Eingangstür die Aufschrift „A.D. 1486“.

Davor stelzen Hühner herum; neben einem kleinen Wassergraben räkelt sich eine grauweiß gescheckte Katze in einem Sonnenfleck.
Und das mitten im Ruhrgebiet.

„Als ich hörte, dass ich nach Bochum komme, war ich entsetzt“, erzählte der nette ostfriesische Gastpater bei einem gemeinsamen Ausflug zum nahen Stausee am Vortag, „ich dachte, da ist alles grau und hässlich und industriell. Bei uns in Ostfriesland ist es doch so schön, und die Leute aus dem Ruhrpott kamen bei uns immer zur Erholung. Deswegen dachte ich: Dort muss es ja furchtbar sein. Und nun gibt es hier so schöne Ecken.“
Ich freue mich, dass wir beide die Schönheit Ostfriesland und die des ländlichen Ruhrgebiets zu schätzen wissen, und lächele in der Erinnerung an das Gespräch. Das glaubt mir hier von meinen Freunden auch keiner, denke ich, während ich weiter wandere und dabei die wunderbare Szenerie genieße; und „beweisen“ kann ich es nicht, da ich heute zwar die schwere Kamera mitschleppe, aber die Speicherkarte im Kloster vergaß.
Schön war es am See; auch dort wurden viele Kindheitserinnerungen wach, vieles war noch vertraut ― auf diffuse Weise oder deutlich. Auch das Tretboot in Form eines Schwans war noch da und schaukelte auf silbrigen Wellen; drumherum gründelten lebendige Artgenossen. Natürlich quengelten wir als Kinder ständig um eine Fahrt mit diesem Schwan, und ich überlege, ob es noch derselbe ist, aber vermutlich ist es schon Schwanentreetboot Nr. 8, man weiß es nicht. Nun sah ich das Boot erstmals aus der Höhe eines Erwachsenen und badete mein Herz in dem Anblick. Auch der Mönch schwelgte am Ufer des Sees in Erinnerungen und berichtete von einer Konventfahrt mit dem Ausflugsschiff, ein ganzer Kahn voller Ordensmänner ― was für eine Schau! Ich konnte es mir lebhaft vorstellen.

Heute aber bin ich allein unterwegs und es soll es zu einem anderen Ort mit vielen Erinnerungen gehen: In den Botanischen Garten. Ein schmaler, steiler Weg mit dem Hinweis „Fußweg zur Universität“ führt mich tief in einen alten, dichten Wald. Umgestürzte Bäume liegen in moosüberwucherten Abgründen, riesige Eichen werfen mit ihren Früchten, an den Sträuchern leuchten sattschwarze oder feuerrote Beeren.

„Kind, geh niemals allein in den Wald spielen!“ höre ich noch eine warnende Stimme, aber das Kind ist groß, und es tut gut, mir den Wald jetzt ganz neu zu erobern. Nach einer Weile begrüßt mich die Universität mit einer übermannshohen Betonmauer in brachialer Hässlichkeit. Davor liegt Müll, dahinter beginnt gleich der Wald: Wenn mich jemand umbringen wöllte, dann hier, an dieser komplett uneinsehbaren Stelle, denke ich, und gehe ein bisschen schneller.
Und plötzlich ist alles wieder da. Ich quere den Campus, als wäre ich nicht 20 Jahre lang fortgewesen. Ich erinnere das Parkhaus, durch das ich vor Urzeiten meinen beige-metallicfarbenen Golf 1 wand ebenso wie die Reihenfolge der Fakultätsgebäude und Sportanlagen. Dann erreiche ich endlich den Garten; eine gute Stunde Marsch vom Kloster entfernt.
Der Botanische Garten hat sich gemausert. Entgegen der Erwartung, ihn verkommener vorzufinden als in der Erinnerung, sind die Gewächshäuser und Beete in hervorragendem Zustand; viele exotische Gewächse wurden anlässlich des sonnigen Wetters vor den Häusern aufgereiht und sorgen für mediterranes Flair. Sogar eine kleine Kaffeebar gibt es jetzt, und ich genieße eine Tasse unter einem Bitterorangenbaum, vollkommen glücklich. Es könnte nicht schöner sein. Der Student hinter der Kaffeetheke kommt mir schrecklich jung vor und ich werde kurz meines Alters gewahr: Als ich diesen Garten zum letzten Mal sah, war ich so alt wie dieser Student und selbst noch einer. Heute bin ich doppelt so alt; ich könnte sein Dozent sein oder sogar sein Vater. Aber mich dauert das heute nicht: Lebensphasen mit gebührendem Abstand betrachten zu können, tut mitunter einfach nur gut.

Das Pflaster ist von den mächtigen Wurzeln der Nadelgehölze, die mich an meinem Pausenplatz wohltuend überschatten, an einigen Stellen aufgesprengt. Vor mir plätschert ein kleiner Brunnen aus Granit. Das Sukkulentenhaus hinter mir war beim letzten Besuch noch eine Baustelle; nun fasziniert es mit wunderbaren Kakteen und anderen Wüstengewächsen.
Auch der chinesische Garten erstrahlt nach langer Schließung in renovierter Pracht, mehrere Hochzeitspaare machen dort Fotos. Riesige Koikarpfen durchkämmen das Wasser des Teiches, in das Trauerweidenzweige ragen: In der chinesischen Kunst sind diese ein Sinnbild für Frauenhaar und oft Gegenstand erotischer Tang-Dichtung und -Malerei. Künstliche Felsen und ein Gebäudeensemble mit vielen Maueröffnungen bieten immer neue Perspektiven.

Zurück nehme ich einen anderen Weg; durch einen weiteren Wald geht es zum Hinterausgang des Gartens und dort erneut durchs Tal bis zu einer Weggabelung, die zur Linken über einen staubigen, nur teilasphatierten Pfad quer durch die Felder führt, geradewegs auf das noch in einiger Ferne liegende Kloster zu. Ich passiere so üppig blühende Feldränder und Gärten, als sei es gerade einmal August. Dass heute Morgen schon Eis auf den Wiesen glitzerte, erscheint mir nun fast surreal.

Auf eines der Felder, das gestern noch frisch abgeerntet schien, hat der Bauer in der Früh Mist aufgebracht. Mir ist ein bisschen schlecht, als ich mich notgedrungen über eine ganze Ackerlänge daran vorbeiquäle: Das reine Landleben bin ich wohl auch nicht mehr gewohnt; es stinkt zum Gotterbarmen.

Durch die abgewetzten Sohlen meiner uralten Lieblingsschuhe spüre ich inzwischen jedes Körnchen Schotter ― auch gewandert bin ich schon lange nicht mehr.

Als ich in den Konvent zurückkehre, steht der freundliche kleine Gastpater gerade vor dem Gästehaus und unterhält sich mit dem Abt; ein anderer Mönch hockt auf der Weide im Kostergarten und füttert die winzigen Shetland-Ponies. Alle tragen den gleichen Habit; der Ordensobere von Bischofsrang, zurzeit zu Besuch aus der Mutterabtei, ist lediglich an seinem Brustkreuz von den anderen zu unterscheiden. Der Herbstwind lässt Zingula und Rocksäume flattern und verwebt die leisen Gespräche der Ordensleute mit dem Rauschen der Blätter in den Baumkronen. Es ist ein herrlich aus der Zeit gefallenes Bild.
Wenn jetzt nur noch das Brausen der nahen Schnellstraße in Wirklichkeit die Brandung des Meeres wäre, denke ich, ― dann würde ich gleich hierbleiben.