Stilles Glück

Am frühen Morgen steigt Nebel aus tauglitzernden Feldern.
Ein breites, dichtes Nebelband zieht sich durch die Dünentäler wie ein weicher, weißer Schal. Verhüllt sind Gebäude, Bäume, Straßenlaternen. Nur die Anderaskreuze des Bahnübergangs zeichnen sich noch schemenhaft ab, als die erste Inselbahn daran vorbeirattert. Dann bricht die Sonne hervor und taucht die Szenerie in Gold; sofort wird es warm und die Menschen in der Bahn wickeln die Schals ab und öffnen ihre Jacken. 
Ich bin unterwegs zu einem Besuch auf dem Festland. Erneut verspricht es ein strahlend schöner Tag zu werden. 
Der Oktober ist schon weit fortgeschritten; dennoch scheint der Sommer meteorologisch kein Ende zu nehmen. Mit winzigen Unterbrechungen ist es tagsüber noch über 20°C warm und fast durchgehend sonnig. Lediglich die Zugvogelschwärme, die überreifen Sanddornbeeren und das sich verfärbende Laub künden vom angebrochenen letzten Viertel des Jahres.

Auf der Inselkirche haben sich Stare versammelt: Mit ihrem prächtigen, schillernd-gesprenkelten Gefieder sind die kleinen Vögel wunderschön anzusehen; ordentlich Radau machen sie außerdem. Bald werden sie weiterziehen. In der Dämmerung kann man morgens und abends die spektakulären Formationen sehen, zu denen sie sich im Fluge über den Dächern des Inseldorfes, den Dünen, Deichen und Weiden sammeln.
Die Löffler sind bereits fort; die Rotschenkel stehen — „Ein Stein, ein Bein“, wie unser Naturführer sagt — dicht gedrängt an der Hafenmole und lassen ihr sehnsüchtiges „Tjüüt“ erklingen.
Ich sehne mich nach nichts mehr. Ich möchte da sein, wo ich jetzt bin und genau das Leben führen, das ich jetzt führe. Mit der Neugier auf alles, was noch kommen mag — ob Begegnung oder Berufung. Aber es ist kein schmerzerfülltes Vermissen mehr da, keine innere Unruhe mehr, keine bohrenden Fragen nach dem Warum. 
Der Klosteraufenthalt hat mir gut getan. 
Es ist nicht leicht, nach so viel Einkehr wieder in den Alltag zu finden, der auch auf Langeoog sehr trubelig sein kann. Aber die innere Einkehr bringt eine Menge Leichtigkeit in die Dinge.

Die Frühfähre zum Festland ist nicht allzu voll, aber das entgegenkommende Schiff birst bereits vor Menschen: Tagesausflügler, die das schöne Wetter ausnutzen möchten. Ein Saisonende ist noch lange nicht spürbar, wiewohl die ersten Strandkörbe bereits wieder abtransportiert wurden. Und die Herbstferien stehen erst noch bevor. 
Ich verbringe mit meinen Eltern ein paar schöne Stunden im Schlosspark Lütetsburg und in der angrenzenden Stadt Norden. Auch dort ist Lebensqualität spürbar und ich genieße das Flanieren und Schauen, den Kaffee und den Pflaumenkuchen, für den man nicht gefühlt Haus und Hof verkaufen muss: Die Preise haben auch dieses Jahr noch einmal ordentlich angezogen auf Langeoog. 
Aber ich möchte nirgendwo anders mehr sein.

Als ich die letzte Fähre zurücknehme, verabschiedet sich der Tag ebenso spektakulär, wie er begann.
Ein prachtvoller Sonnenuntergang verfärbt den Himmel in weiches Pastell. Die Sonne schickt ihr letztes Licht in goldenen Strahlen durch die Wolken, die aussehen wie die Corona einer kostbaren Monstranz.

Tantum ergo sacramentum
Veneremur cernui,
Et antiquum documentum
Novo cedat ritui,
Præstet fides supplementum
Sensuum defectui

Ich denke an die tägliche Aussetzung und Anbetung im Kloster und wie würdevoll und festlich dieses Ritual doch war. Der Weihrauchduft, der lateinische Gesang, die Kerzen. Die beinahe zärtliche Geste, mit der ein anderer Mönch den Zelebranten in das weiße, goldbestickte Schultervelum hüllte, bevor dieser nach einer tiefen Verbeugung hinter den Altar trat und die Monstranz vor Entnahme der Hostie zur letzten Anbetung emporhob. Die Gläubigen bedeckten derweil das Gesicht.
Das Tageslicht, welches durch die Buntglasfenster der Kirche fiel, spiegelte sich im Goldglanz des liturgischen Geräts und warf seine Reflektionen in reichen Farbfacetten auf das Altartuch.

Und nun, hier an Bord der Langeoog I, lässt der HERR die Schöpfung leuchten, spiegelt sich die Sonne auf stiller See, erstrahlt der Himmel in den Farben der Buntglasfenster. Fast möchte man auch hier in Demut und Ehrfurcht sein Gesicht bedecken.
Es ist so schön.
Mit dem Versinken der Sonne laufen wir in den Heimathafen ein. Es tut so gut, jetzt alle Wege zu kennen. Im Gegensatz zu den Touristen, deren Aufregung mit jedem Meter Bahnstrecke steigt, muss ich mit dem Verlassen der Bahn nicht mehr suchen, keine Karten entfalten oder Apps öffnen. Ich gehe einfach nach Hause.