Seit Tagen hüllt sich die Insel in nasses Grau; manchmal stürmt es ein bisschen. Es ist nicht allzu kalt, aber noch weit entfernt davon, warm zu sein. Es ist gerade irgendwie gar nicht.
Langeoog befindet sich auf der Schwelle zum Vorfrühling. In einem Graben schüttelt der Wind Regentropfen von ersten Schneeglöckchen. Möwen balgen sich am Strand um Muscheln.
Ich erschrecke, als ich in viel zu kurzer Entfernung einen Seehund entdecke und entferne mich rasch. So sandfarben, wie er dort lag, und so gedankenverloren, wie ich dort entlangbummelte, hatte ich das Tier beinahe übersehen.
Es ist also keineswegs immer Ignoranz oder Böswilligkeit, wenn Menschen sich den großen Meeressäugern zu sehr nähern: Es passiert auch aus Versehen.
Dennoch tut es mir Leid, und ich hoffe, dass er mich noch nicht gerochen hat. Aber der Seehund bewegt sich kaum, und so zoome ich ihn aus sicherer Entfernung mit der Kamera heran. Seine Hautfarbe sieht nicht gesund aus. Ich glaube, er stirbt.
Man sieht viel Werden und Vergehen dieser Tage, denke ich. Die Natur erneuert sich. Das Alte geht, das Neue ist aber oft noch nicht da. Mir ist, als überspannte der bleigraue Himmel heute einen riesigen Wartesaal.
In einem sehr traurigen französischen Chanson beschreibt jemand das Gefühl, dass auch das Herz zuweilen wie ein Bahngleis ist, an dem niemand mehr Halt macht. So fatalistisch würde ich das nicht sehen, aber man sieht doch, durch zunehmend trübe Scheiben, vielen durchfahrenden Zügen hinterher.
Personenschaden auf der Strecke nach Süden.
Wann es weitergeht? Ungewiss.
„Das Leben betrügt uns mit Schatten“, schreibt Oscar Wilde, „wie ein Marionettenspieler“. Und tatsächlich weiß man manchmal nicht mehr, was real ist und was nicht, und warum so oft im Guten das Böse lauert und umgekehrt. War es ein schlechter Hirte, der mir die Geschichte vom guten Hirten erzählte? War es ein Wolf, der dem Lamm diente? Wem kann man auf dieser Welt noch trauen, und: Wie?
Die Erinnerung zerfließt. Wie der Regen an der Scheibe des zugigen Wartesaals. Wie der Himmel, der sich über unserem Meer spannt.
Über dem wunderschönen, treuen Meer, das mit seinem gleichförmigen Rauschen allen Lärm der Welt befriedet.
Auch den im Inneren.
Es gibt Tage, an denen ich froh bin wie nie zuvor, das Meer vor meiner Haustür zu finden. Diese einzige, große Konstante. Die aus ihrer Urgewalt, ihrer Zerstörungskraft keinen Hehl macht. Aber auch nicht aus ihrer Sanftheit und Schönheit. Die so viel enthüllt und verwirft. Aber auch noch mehr schluckt, erträgt, aushält. Die Leben nimmt und Leben schafft.
Zuhause greife ich zu einem kleinen, bibliophil aufgemachten Gedichtband. Der seidenartige Umschlag zeigt zwei junge Birken mit sonnendurchflutetem Frühlingsgrün. Ich blättere darin herum und erwarte, Unmengen an Lyrik mit der Pracht des erwachenden Lebens darin zu finden, mit Maienreigen und Vogelkonzerten. Aber tatsächlich gibt es erstaunlich viele Dichter, die sich mit dem Phänomen des Vorfrühlings befassen. Mit dieser mitunter trügerisch anmutenden Mischung aus Sonnentagen, welche die ersten Triebe hervorlocken, gefolgt von neuem Aufbäumen des Winters. Mit der Nässe, der Kälte, dem entkräfteten Sterben unter den Knospengewölben tropfnasser Zweige. Und dennoch bleibt sie: Die Gewissheit, dass der Sieger in dieser Sache feststeht; und zwar seit Anbeginn der Schöpfung.
Es ist der Frühling, der den Frost vertreiben wird. Die Wärme gewinnt gegen die Kälte. Die Farben besiegen das Grau.
Der Wolf schnürt auf einsamer Fährte zurück in den Wald, wo der Schnee unter dem dichten Tannendach noch lange liegen bleiben wird.