Momentaufnahme, Kreuzfahrt I

Als ich mein Dessert beende, weiß ich nichts über die drei Damen neben mir am Banketttisch. Aber alles über die Beziehungen und Figurprobleme nicht anwesender Freundinnen der drei, inklusive allen Details zu deren Schwangerschaftsübelkeit. Letzteres Thema wird mir als unfreiwilligem Ohrenzeugen — die schlechten Wortspiele drängen hier förmlich nach oben — geradezu bröckchenweise vorgekaut und ich bin in Versuchung, als nächstes Thema „Durchfall“ anzuregen. Just in case, dass diese Tischplatzierung, wie ich fürchte, über die Dauer der Kreuzfahrt dieselbe bleibt. Denn damit hätten wir alle unappetitlichen Dinge wenigstens schon am ersten Tag, nunja: abgefrühstückt.
Vor dem Fenster färbt sich der Himmel aprikosenfarben. Es ist früher Abend.

Die See ist still und liegt ruhig vor den riesigen Panoramafenstern. In dem opulent ausgestatteten Festsaal spielt eine Pianistin Flügel: Eine elegante Frau, blond und ungefähr mein Alter. Ab und zu sieht sie in die Runde und lächelt, aber natürlich ist es ein einstudiertes Lächeln, die meisten Stücke spielt sie auswendig.

Das Buffet ist nahezu obszön zu nennen in seiner Fülle, man ist quasi vom Angucken schon satt. Ich mag gar nicht darüber nachdenken, welche gigantischen Mengen an Lebensmitteln hier täglich entsorgt werden; gar nicht zu reden von der logistischen Leistung, all diese Nahrungsmittel, inklusive gewaltiger Süß- und Abwassertanks, überhaupt erst irgendwo im Gedärm dieses gigantischen, schwimmenden Stahlbehälters einzulagern.

Ich habe am Vortag nur wenig geschlafen und deshalb vor Müdigkeit kaum Appetit. Infolgedessen schaffe ich es nicht einmal, einen Bruchteil der Sachen zu probieren. Plötzlich verstehe ich auch, warum es immer heißt, Kreuzfahrten machten fett. Denn obwohl wenn man hier teils etliche Meter von A nach B zu laufen hat und es ein großes Außendeck sowie Sportangebote gibt, so sind es in erster Linie doch zwei Dinge, die Menschen hier tun: Gucken und Essen.

Im Grunde sind Kreuzfahrten alles, was ich hasse. Es ist voll, laut, bunt und größtenteils kitschig. Wenn man sich nicht gerade eine Suite leisten kann, ist es noch eng dazu; Menschen mit Adipositas schaffen es in einer der billigeren Kabinenkategorien vermutlich nicht einmal in die Dusche.

Außerdem locken sie Grüppchen an, die bei mir instinktiv Fluchtreflexe auslösen: Jungesellinnenabschiede (es dauert keine 30 Minuten, bis ich am ersten Tag eine Mittdreißigerin mit blinkendem Geweih, umringt von kichernden Freundinnen, zu sehen bekomme) und Artverwandtes.

Es ist meine erste Seereise mit Übernachtung an Bord; eine Mini-Kreuzfahrt mit jeweils 20 Stunden auf See zwischen den Landgängen.

Als ich mich nach dem Check-in in Kiel durch den schier endlosen Wurmfortsatz der Gangway, die quietschbunte Lobby und die engen Gänge zu meiner Kabine quäle, werde ich zunächst leicht klaustrophobisch und mir kommen Zweifel an diesem Vorhaben. Hinter mir gehen laut schnatternde Menschen, die mir so dicht auf die Pelle rücken, dass ich ihren Atem riechen kann.

Aber dann betrete ich die Kabine, es wird still, und vor einem riesigen Bullauge breitet sich der Blick auf das Stadtpanorama von Kiel und das glitzernde Hafenbecken. Die große Schwedenfähre am Kai gegenüber strahlt mit dem Wolkenweiß um die Wette. Ich hatte mit einem winzigen Fensterchen gerechnet; aber nun sitze ich vor diesem mindestens 1,20m im Durchmesser fassenden Riesenbullauge und starre und starre und starre, während sich mein Schiff Kurs Olso durch die Förde schiebt.

Alles sehe ich wieder, was ich schon vor Jahren augenblicklich liebte: Das Schiffahrtsmuseum, den Marinehafen (die Gorch Fock an der Tirpitzmole schmerzlich vermissend), das Marine-Ehrenmal in Laboe mit dem Museums-U-Boot davor.

Doch nun sehe ich es aus einer im Wortsinne überragenden Perspektive; das Majestätische des Schiffs übertönt das Majestätische der Landschaft und Bauwerke dabei aber keinesfalls, im Gegenteil: Das 9. Deck der Norwegenfähre scheint mir plötzlich der einzig würdige Aussichtspunkt zu sein, um diese Dinge mit der gebührenden Ehre zu betrachten. Der Blick von hier oben adelt alles, was ihn kreuzt.

Irgendwann verlasse ich aufgrund von Hunger schließlich doch die Kabine; ich finde eine halbwegs ruhige Sushi-Bar, in der ich einen feinen Genmaicha trinke und unfassbar frischen Fisch esse: Zu Preisen, die auch nicht schlimmer sind als auf Langeoog. Und allmählich beginnt mir auch das Treiben an Bord zu gefallen.

Das sichtbare Personal sind fast ausschließlich Norweger; die unaufdringliche, stille Höflichkeit und die kaum zu beschreibende, aber sehr angenehm klingende Sprache der Menschen gefällt mir sehr. Auch unter den Passagieren sind mehr Norweger, als ich erwartet hätte.

Viele davon sehen exakt so skandinavisch aus wie in meiner Vorstellung: Man sieht schöne Jochbeine, viel blonde und rote Haare und volle Bärte an hochgewachsenen Männern; die Frauen haben diese kleinen, nach oben zeigenden Nasen und sind ebenfalls groß, ohne stämmig zu wirken. Und als ebenso unaufdringlich wie ihre Höflichkeit empfinde ich ihre Eleganz: Cleanes Understatement herrscht vor; die Kleidung wirkt wertig, aber nicht protzig. Die Frisuren sind natürlich, aber nie nachlässig. Der Nicht-Norweger indes kauft sich im Bordshop grobe Strickpullis, hässliche Trolle und grelle Fleecejacken mit der Landesflagge.

Ich wiederum sitze und staune und ertappe mich dabei, wie ich mich schneller ins Getriebe einfüge als erahnt. Denn schließlich mache auch ich hier unmittelbar diese zwei Dinge: Gucken und Essen.

Auf dem Höhepunkt des Sonnenuntergangs passieren wir die Große Beltbrücke. Die filigrane und dennoch gewaltige Hängekonstruktion schmiegt sich in pastelliges Licht, die Scheinwerfer der Autos und LKW darauf glitzern wie Schmucksteine. Im Hintergrund zeichnen sich dunkel die Konturen der Küste und einiger kleiner Inseln ab. Dann wird es schwarz über der See bis auf eine sattgelbe, schmale Mondsichel und das Leuchten des Schiffes, in dessen Bauch ich an einem sich leicht neigenden Schreibtisch sitze, sanftes Vibrieren unter den Füßen, das Brummen von Klimaanlage und Motoren um mich. Tatsächlich hatte ich erwartet, bei einem Gefährt dieser Größe keinerlei Schiffsbewegungen wahrzunehmen. Aber man spürt es dennoch: Sie schwimmt, und unter ihr tobt die Urgewalt der mächtigen See.