Momentaufnahme, Stunden

Am letzten Tag sitzen der Mönch und ich auf der Bank unter den Linden. Er ist fast genauso so alt wie ich und so dünn, dass andere Leute sein Zingulum als Halstuch tragen könnten. Trockene Grashalme haben sich im Saum des Habits verheddert; er zupft sie weg, während ich den Versuch unternehme, die Zeit Revue passieren zu lassen.

Wir reden über Kunst und Brentano, über Heilige und den Tod, über Lourdes und die Linden. Und ich will noch nicht gehen.

Der Abendwind streicht warm über die Felder und die ungemähte Weide, bringt kurze Unruhe in Gräser und Blumen. Ungerührt davon singt eine Drossel ihr Lied in den Bäumen.

Mit dem gespendeten Reisesegen stehe ich da wie vor einem noch ungepackten Koffer, die Kleider auf einem Berg daneben, noch ungefaltet und unsortiert: „Patient blutig entlassen“ nennt man diesen Zustand in Krankenhäusern. Ich bräuchte mehr Zeit. Und ich bin noch so müde. Der hochgewachsene Mönch eilt zum Gebet, ich höre den Wind in den fliegenden Rocksäumen. Dann ist seine laternenschlanke Gestalt verschwunden, irgendwo hinter den Mauern.

„Kommen Sie mal wieder“ sagt der hochwürdigste Herr Prior und lächelt gütig.

Ja.

Auf dem Pilgerplatz spielen die entzückenden Kinder einer Frau, die hier im Kloster Unterschlupf fand, vermutlich aufgrund einer sozialen Notlage; ich fragte nicht danach. Denn eigentlich ist es ja auch egal: Sind wir nicht alle auf irgendeine Weise in Not, die wir dort anklopfen? Hoffend auf Rat, Ohr und Mitgefühl dieses herzwärmenden Häufleins schwarzweiß gewandeter Menschen, die dabei doch selbst ihre eigenen Nöte und Sorgen haben?

Das älteste Kind mit den robbenhaften Kulleraugen ruft meinen Namen und winkt. Beim Essen wollte er neben mir sitzen. Es passiert selten, dass mich Kinder rühren; ich habe wohl einfach kein Eltern-Gen in mir, aber diesen Kleinen gewann ich lieb. Es ist schön, dass mich hier nicht nur Gott beim Namen ruft. Dass hier Menschen offenkundig irgendetwas in mir sehen, für das ich selbst blind bin.

Mich befällt eine eigenartige Traurigkeit in diesen letzten Stunden im Kloster. Einmal mehr habe ich unzählige neue Dinge gelernt, endlich wirklich Zeit für Gott gefunden; Zeit, zuzuhören und Zeit, um zu lieben. Zeit für ein offenes Herz und für Güte und Gnade. Hier ist es schön, still und sicher.

Zugleich befinde ich mich mit so Vielem noch so sehr am Anfang des Weges, blamiere ich mich durch Unkenntnis von Liturgie und Riten, hadere ich mit der Mütterlichkeit Mariens, obwohl das „Salve Regina“ hier in gänsehauterzeugender Schönheit und Würde allabendlich vorgetragen wird; stolpere ich in und durch Gräben des Unwissens. 40 Jahre Rückstand in katholischer Sozialisierung sind mitunter nicht leicht zu überbrücken, auch wenn mich Gott täglich fühlen lässt, dass ich trotz allem hier hingehöre; dass es gut ist und richtig. Immerhin: Das marianische Gebet, das wir am Ende des Tages beten, stammt aus der Feder Martin Luthers und versöhnt mich mit meiner protestantischen Vorprägung.

Nach der abschließenden Beichte hingegen möchte ich erneut vor Scham im Boden versinken, weil ich den Versuch des Handauflegens zur Absolution als ein Handreichen zum Abschied missverstand (aus Nervosität nicht merkend, dass noch gar kein „absolvo te“ erteilt worden war). Ich fühle mich wie ein Schüler, der nach einer Klassenarbeit einfach weiß, dass er zur Gänze verkackt hat und zitternd auf die Rückgabe des Blattes mit der 6 darauf wartet, obwohl mir zugleich klar ist, dass den Herrgott im Bußsakrament die Aufrichtigkeit der Reue vermutlich mehr interessiert als die Form. Dennoch geniere ich mich entsetzlich.

Der Priester lässt mich danach in ein Schächtelchen mit Spruchkarten greifen; ich soll darüber meditieren. Ich nehme mir blind irgendeines heraus und schaue es erst an, als ich schon wieder vor der Kirchentüre stehe.

„Der HERR ist König“, steht da zu lesen. „Darüber freue sich die ganze Erde. Auch die vielen Inseln sollen darüber fröhlich sein.“

Mir entfährt ein Laut ergriffenen Erstaunens. Die Inseln! Wenn hier nicht der Heilige Geist die Karte im Schnabel hatte, denke ich ehrfürchtig. Warum sonst zog ich ausgerechnet diese? Zugleich weicht alle Traurigkeit von mir.

Die Inseln sind fröhlich.