Momentaufnahme, Fahrt

Ganz plötzlich ist es Sommer. Die Hitze lässt den Asphalt flimmern, während vor dem Autofenster erst das Münsterland, dann das Emsland und schließlich das geliebte Ostfriesland auftaucht. Zahllose auf -um endende Dörfer sowie Städte, mit denen ich längst liebgewonnene Menschen und wertvolle Erinnerungen verbinde, tauchen auf der Beschilderung am Straßenrand auf: Aurich, Wilhelmshaven. Jever. Leer. Ich denke an meine Freunde, die dort jetzt aus ihren Fenstern schauen oder irgendeiner Aktiviät nachgehen und fühle mich sehr zuhause. Auch einer der Stiepeler Mönche stammt gebürtig aus dieser Region, und es war herrlich, sich mit ihm über alles von Gott bis Grünkohl zu unterhalten. Beim Frühstück steckte er mir heimlich ein paar Beutel „Bünting Grüngold“ zu, weil das, wie jeder weiß, der einzige Ostfriesentee ist, der auch mit Ruhrwasser funktioniert. Ich nickte verschwörerisch und jubelte meinerseits ein paar Beutel mitgebrachtes Langeooger Sanddorngebäck in den Klosterküchenfundus, die ich zu meiner Freude schon bald gänzlich entleert im Rekreationsraum der Gottesmänner liegen sah. Ich vermisse die Mönche. Aber ich liebe den Norden. Und so liegt zwischen Abschiedsschmerz und Wiedersehensfreude nun die Autobahn.

Ich habe sehr lange keine Autoreise mehr gemacht. Ich fahre nicht gerne und besitze auch gar kein eigenes Auto; aber meine Eltern sind mit an Bord, dazu viel Gepäck, und so rumpeln wir also die Straßen entlang; den heiligen Christopherus rief ich noch vor der Abfahrt auf dem Parkplatz an.

Die schmucklose Raststätte, an der wir pausieren, hat hingegen so gar nichts von Heiligkeit. Irgendwo zwischen Einarmigen Banditen und unten im Regal versteckter Einhandliteratur ziehe ich einen Kaffee aus einer schmuddeligen Maschine. Der Mann an der Kasse ist sehr freundlich; trotzdem denke ich, dass Raststätten an der Autobahn die einsamsten Orte der Welt sind, sogar wenn deren Lokalitäten überquellen. Auf dem Spielomaten steht das Schild einer Suchtberatungsstelle. „Reden wir einfach drüber“ sagt es, „Spielsucht ist behandelbar“. Dazu eine Telefonnummer. Auf dem Parkplatz röhren gleichgültig die Motoren. Niemand kommt hierher, um zu bleiben.

Draußen herrscht ein Geruch nach Benzin und Frittiertem. Wir schlingen die mitgebrachten Brötchen im Wageninneren hinunter und setzen die Fahrt fort. Die Sonne brennt auf das Blech und verwandelt das Auto binnen Minuten in einen Inkubator.

In meinem Koffer schlummern derweil Leder-Stiefeletten, Daunenwesten und Wollpullover: Es war kalt, als ich die Insel verließ; heute trage ich kaum noch etwas am Leib.

Am Nachmittag erreichen wir Dornum. Ich sah diesen Ort mit seiner Burg, dem Wasserschloss und der schönen Warftkirche zuletzt im Winter. Nun steht die 200 Jahre alte Rotbuche vor dem Gotteshaus in vollem Laub ― Ein wundervolles Gewächs. So voller Leben. Und so viel überlebend: Generationen und Kriege.

Auch an anderen Stellen des Dorfes sieht man solche botanischen Methusalixe; die Krähen zanken mit ohrenbetäubendem Lärm in den stolzen Kronen.

Mit meiner Mutter sitze ich am Abend unter einer riesigen Trauerweide. Die Bank darunter bildet ein Rondell um einen alten Mühlstein, der wiederum als Tisch fungiert. Aus der Uferböschung des Burggrabens leuchten Lilien; eine Entenfamilie gründelt.

Ob es denn gerade niemanden gäbe, der mich interessiert, will sie wissen. Also: Vielleicht ein bisschen mehr interessiert. Und wen ich besonders nett finde, also: „vielleicht mehr als nett“. ― Was Mütter eben so fragen.

„Mich interessieren so einige ein bisschen“ sage ich, und liste ein paar Namen hochgeschätzter Freunde auf, wiewohl mir klar ist, dass sie etwas anderes hören will. Aber da ist nichts. Nicht in dieser Hinsicht. Es geht mir gut.

„Mir reicht der Herrgott“ wand ich mich bereits im Kloster heraus, als mich ein anderer Gast nach einer Ehefrau verhörte. Unter Katholiken gibt man sich i.d.R. damit zufrieden, aber im anderer Gesellschaft ist es nur schwer zu vermitteln, dass man ein priesterliches Leben führt, ohne es zu müssen: Einfach, weil man es so will und weil es einen glücklich macht.

Und das tut es: War ich im letzten Jahr noch gebrochenen Herzens in dieser ostfriesischen Burg zu Gast, so liege ich hier nun in gelöster Heiterkeit hinter den Mauern und höre dem Gezänk der Krähen und dem Gurren der Wildtauben zu. Dazwischen schreit schrill ein kleiner Kauz.

Nur noch zwei Tage Frieden, denke ich, als langsam die Nacht über die Burg hereinbricht. Danach hat mich der Tumult einer Insel im Bürgermeister-Wahlkampfmodus wieder: Die Nachrichten von Langoog sind nicht schön dieser Tage. Halte einem Gaul (oder vieren) die Möhre „Macht“ vor die Nase und schon dreht der ganze Stall durch. Von Schlammschlachten und Schlangengruben ist die Rede, von schreiender Naivität und perfider Manipulation, von Selbstdarstellung und peinlicher Anbiederung, von Klassendünkel und Korruption. Und mich erstaunt immer wieder, wie selbst in schönster Umgebung der Mensch seine Hässlichkeiten nicht zu verbergen mag: Bei der erst kurz zurückliegenden Europawahl setzen zwei Insulaner ihr Kreuz bei der NPD, bei der blaugestrichenen Lightversion davon ganze 44. Was soll man dazu noch sagen?

Ich freue mich auf das Meer, auf meine Wohnung. Aber manchmal, so scherzte ich bereits mit dem Leeraner Mönch: Manchmal wüsste ich eine Zweigstelle des Klosters auch auf Langeoog sehr zu schätzen.

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