Meinen Reifen hat es zerlegt. Nicht schon wieder, denke ich, als ich nur wenige Meter hinter dem Haus mit dem Fahrrad hart über das Klinkerpflaster zu hoppeln beginne und den Platten entdecke. Entnervt schiebe ich das Rad heim und mache mich zu Fuß erneut auf den Weg zu meinem Ziel. Später inspiziere ich den Schaden. Vermutlich hat es den Schlauch dieses Mal sogar aus Altersschwäche zerlegt, aber es gab schon andere Zeiten. Und andere Gründe.
Ich kann nicht zählen, wie oft mein Reifen schon platt war. Und wie oft deutliche Messerstiche die Ursache waren.
Klar, mag man denken, das gab es zu aller Zeit. Wo Menschen sind, sind Gewalt und Vandalismus. Wo aber, frage ich mich, verläuft der Grat zwischen jugendlichem Grenzenaustesten und dem Grundstein zu einer lebenslangen Gewaltneigung?
Fachleute der Jugendpsychiatrie könnten das sicher recht schnell beantworten; ich indes denke mit Grausen an eine Szene vom Vortag zurück:
Ich trete nach der Messe, heiteren Gemüts, aus der Kirche und richte den Blick zunächst auf die wunderbaren Rosen unweit des Gotteshauses. Dann blicke ich in den Lauf einer Waffe, direkt auf mich gerichtet, in den Händen eines dicklichen Teenagers; fast noch ein Kind. Natürlich erkenne ich sofort, dass es ein Spielzeug ist, aber die Dreistheit, mit der da ungerührt „Passanten erschießen“ gespielt wird, lässt mich doch etwas erblassen. Ich setze meinen Weg möglichst unbeeindruckt fort; der Junge drückt noch zweimal ab. Ich bedenke ihn wortlos mit einem Blick, der ihm beim nächsten Abdrücken alle Qualen der Hölle verheißt. Ein eher zierlicher blonder Junge, der daneben steht, sagt „Moin“ und blickt leicht eingeschüchtert zu mir hoch. Wiewohl der Gruß inmitten dieser Szenerie etwas Absurdes hat, nehme ich die verlegene Höflichkeit wohlwollend zur Kenntnis und grüße zurück — nicht ohne dabei zu wünschen, das vernichtende Lippenkräuseln einer Meryl Streep zu beherrschen: The Devil wears Barbour.
Wenig später setzt sich die Bande wieder in Bewegung; ich höre den dicklichen Jungen, der entweder der Anführer ist oder es gern wäre, rufen: „Da ist ja auch der Kiosk, den wir überfallen werden!“ Ich denke an die nette Inhaberin dieses Büdchens, die ich gerne mag, und verfluche das Kind jetzt wirklich ein wenig. „Nee“, ruft eines der anderen Kinder, „wenn, dann überfallen wir einen Ort, wo echt Geld ist. ‚Ne Bank oder eine Tankstelle oder so.“
Zauberhaft, meine angeblichen späteren Rentenzahler, denke ich seufzend: Ob Einkommen aus Überfällen da wohl auch miteinberechnet wird? Hinter mir knallt es noch ein paar Mal aus dem Spielzeugrevolver: Wenigstens stürbe ich direkt an der Kirchenmauer, wenn er echt wäre.
„Hast Du nie Räuber und Gendarm gespielt? Oder als Kind Waffen gebaut?“ fragt mich der Freund, dem ich im Anschluss davon erzähle. „Natürlich habe ich das“, antworte ich, „aber immer eingebettet in ein klar erkennbares Rollenspiel: ‚Stehenbleiben, Polizei!‘ — sowas halt. Oder Burgfräuleins retten als Ritter; ein Ast diente dabei als Schwert.
Aber ich erinnere mich nicht, im Spiel je auf einen realen Menschen geschossen zu haben: Auf jemanden, der nicht ebenfalls eine Rolle spielte. Und ich erinnere auch keinen auf blanker Zerstörungswut basierenden, vorsätzlichen Vandalismus — vom unbeabsichtigten Zerstören von Dingen durch Anfälle vermeintlicher Kreativität oder schlichter Tollpatschigkeit soll hier nicht die Rede sein.
„Die Menscheit verroht“, räumt schließlich auch der Freund ein; wir sind beide müde.
„Sieh dir doch nur die Kommentare im Internet an“, sagt er, „und bei jedem Mist wird heute ein Messer gezückt, wo es früher maximal einen Tiernamen für gegeben hätte.“
Uns ist nicht wohl um diese Jugend.
Draußen senkt sich die Dunkelheit auf die Insel und lässt das leuchtende Grün meines gemeuchelten Fahrrads allmählich verblassen. Auf einem Holunderstrauch sitzt ein Bluthänfling; auch er sieht aus wie das Opfer eines Messerangriffs.
Die Menschen haben zu wenig Worte, denke ich. Niemand liest mehr gründlich, oder liest überhaupt. Niemand hat noch Lust, mehr als eine Tweetlänge zu schreiben. Es wird nur noch ins Wort gefallen statt zugehört; ich schaue deswegen schon lange keine Fernsehdebatten mehr. Und allerorten faseln die Leute von Dialog und preisen sich als TeamplayerInnen — um dann ins Beleidigen, Mobben oder Schweigen zu verfallen, wenn nicht das kommt, was sie hören wollen oder wozu schon einfache Antworten parat liegen. Rührt vielleicht auch daher die zunehmende Gewalt? Dass Fäuste und Waffen da zum Einsatz kommen, wo der Wortschatz abnimmt, wo die Fähigkeit zum zivilisierten Verbalduell, zum gepflegten Disput — früher eine Art Kulturgut! — abhanden gekommen ist?
Oder ist es gar die zunehmende Bedeutungslosigkeit christlicher Tugenden wie Nächstenliebe, Nachsicht, Barmherzigkeit, die einem immer mehr als Schwäche ausgelegt werden? Ich weiß es nicht. Aber ich bin dieser Rohheit überdrüssig.
Hinter dem Meer versickert nun der letzte Streifen pastellfarbener Dämmerung; die Wolken haben sich zu bedrohlichen schwarzen Haufen zusammengeballt. Blitze durchzucken die Dunkelheit. Dann kracht ein gewaltiger Donner, binnen Sekunden gefolgt von rauschendem Platzregen.
Auch der Himmel ist heute auf Krawall gebürstet über Langeoog. Und ehrlich gesagt, erstaunt mich das wenig.