Momentaufnahme, Durchreise

Die Dämmerung hat sich sehr unspektakulär angeschlichen. Irgendwann, ich erwachte lange vor dem Weckerklingeln, hatte sich der Nachthimmel über Bremen zu einem trüben Graurot aufgehellt. Wenig später konnte ich den Turm von St. Johann schon deutlich erkennen. Für die Frühmesse blieb aber keine Zeit; die Weiterreise stand an. Ich verabschiedete mich von den Birgittenschwestern in ihrem schönen, mittelalterlich anmutenden Habit, leerte mein gesammeltes Kleingeld in die Hände der Obdachlosen vor der Kirche und wuchtete mein Gepäck in ein Bahnhofsschließfach. Und dann stand ich da mit sehr viel Zeit und sehr wenig Verpflichtungen: Der Zug nach Hamburg ging erst in vier Stunden. Was blieb? Die Rückkehr in ein früheres Leben.

Und in diesem sitze ich nun im Café des Überseemuseums. Es ist ruhig, aber vermutlich verachten mich die Leute hier trotzdem, weil ich seit Stunden einen Tisch blockiere und mit meinem MacBook am W-LAN schmarotze; ein Klischeebild der digitalen Bohême, die sich für etwas Besseres hält, für so frei und so unabhängig, und dabei doch nur akademisches Prekariat ist, Lückenfüllmaterial im Getriebe eines nimmersatten Marktes.

Die Erinnerung an Berliner Jahre sitzt neben mir wie ein ominöser Schatten. Ich weiß noch, wie neidisch ich in meinem verhassten Marketing-Bürojob war, wenn mir die freien Dienstleister, mit denen ich damals kooperierte, von irgendwelchen Cafés aus schrieben. Aber als ich dann selbst als freier Dienstleister meinem täglich Brot hinterherjagte, anstatt als Angestellter im Büro zu sitzen, war der vermeintliche Glamour dieses Daseins schnell Geschichte. Ständige Unsicherheit im Nacken; dazu die Diskrepanz zwischen dem, was andere Leute dachten, wieviel man verdiente, und dem, was man wirklich erwirtschaftete im Verhältnis zum Aufwand: Dem Klinkenputzen, dem Anmahnen von überfälligen Rechnungen, dem Abarbeiten von Aufträgen unterschiedlichster Coleur: Hier die Website für einen Lastwagenteilezulieferer. Dort der Flyer für den Gourmet-Caterer. Und zwischen den Terminen reichte es eben oft nur zum Abarbeiten der Dinge irgendwo im Café, weil ich am Arsch der Welt wohnte, oder, wie der Berliner sagt, JWD, „Janz weit draußen“.

Jedenfalls bin ich froh, diesem Dasein entronnen zu sein, und spüre, dass ich mich nicht einmal mehr im Urlaub daran gewöhnen möchte.

Das Museumscafé füllt sich. Elegante Hanseatinnen im Businesslook kommen herein, es ist Mittagszeit. Auch ich bestelle etwas zu Essen, ansonsten wäre die Okkupation des großen Tisches für mich allein allmählich wirklich dreist. Bremen ist eine große Stadt, dennoch treffe ich nun zum zweiten Mal an diesem Tage zufällig eine Sopranistin, die auch auf Langeoog öfters sang; seit einer schmeichelhaften Rezension meinerseits hat sie sich offenbar mein Gesicht gemerkt und grüßt freundlich: Auch das zum zweiten Mal.

Und so ist wohl sogar Bremen im Zentrum nur ein Dorf, wo man nicht Vieles unbemerkt tun kann. Aber ich mag Bremen; an mehr Größe könnte und wöllte ich mich nicht mehr gewöhnen. Und an weniger Eleganz auch nicht.

Den Beweis dafür bekomme ich wenig später in Hamburg. Als ich aus dem Zug steige, ist die Sonne soeben als goldener Ball versunken. Schön sah es aus, wie sich die filigrane Eisenbahnbrücke und die Silhouette des Bahnhofs davor abzeichneten. Aber jetzt ist es dunkel, und ich bemerke die Autos: Die roten Lichter ergießen sich wie ein Strom glühender Lava in die Stadt, ich habe lange nicht mehr so viele auf einmal gesehen. In den Bürotürmen sieht man Menschen hinter den Fenstern durch sterile Gänge wieseln, in sterilen Büros sitzen; vereinzelte Topfpflanzen in den Fenstern ein trauriger Rest von Leben. Ich danke Gott, dass dies nicht mehr mein Leben ist. Die Großstadt und ich werden wohl keine Freunde mehr, wiewohl Hamburg, so muss ich zugeben, unter den Molochs dieser Welt vermutlich noch einer der schönsten ist.

Der Anblick all dieser blinkenden Lichter, des Wuselns und Wieselns, gepaart mit einer Geräuschkulisse aus absolut Allem, stresst mich jedenfalls dergestalt, dass es mich umgehend zu einem Ort zieht, an dem ich Stille um mich weiß, dazu hohe Decken und Schönes zum Ansehen. Die Rede ist ausnahmsweise nicht von einer Kirche, sondern von der Hamburger Kunsthalle.
Vor dem imposanten Bau fühle ich mich furchtbar klein; angesichts des atemberaubenden Inhalts auch noch furchtbar untalentiert. Aber das ist mir egal, denn zeitgleich ergreift mich hier sogar ein seltener Anflug von Stolz darüber, der Spezies Mensch anzugehören. Denn wer so baut und so malt, kann nicht von grundauf schlecht sein. Ich schwelge in einer fabelhaften Sonderausstellung impressionistischer Werke, durchstreife viele Räume mit Eigenartigem, Befremdlichen und Faszinierendem, erkenne, dass ich von Kunst im Grunde überhaupt keine Ahnung habe, aber sie mir immer noch einfach gerne ansehe. Ich verlasse das Museum glücklich.

Aus einem nahen Café sehe ich aufgeklappte Apple-Rechner leuchten. Ich bestelle, Provinzler der ich nunmal bin, das, was am Wenigsten exotisch klingt und reihe mich erneut in die digitalen Café-Nomaden ein, bis die Abfahrt des Nachtzuges in die Nähe rückt.
Wieder denke ich über das Unbeständige dieser Art zu arbeiten nach, diese Ruhelosigkeit, die auch ich früher als ultimative Freiheit verstand, aber heute nicht mehr ertragen würde. Wenn das Abenteuer Alltag wird, verliert es schnell seinen Reiz. Das gilt wohl für Affären ebenso wie fürs MacBook-Vagabundentum.

Und nun möchte nicht länger auf Durchreise sein. Ich bin dankbar für alles, was ich an diesem Tage erlebte, aber nun möchte ich ankommen; nun möchte ich wissen, was mich hinter der nächsten Straßenecke erwartet.

Ich möchte ein liebes Gesicht sehen, das mich am Bahnhof abholt, Jahrhunderte alte Gesänge hören und noch ältere Gebete sprechen; umgeben von uralten, sicheren Mauern, einem guten, durchbeteten Raum und der stillen, dunklen Anmut des Waldes. In 12 Stunden werde ich da sein.