Es ist der erste warme Tag auf Langeoog, auch wenn er mit seiner schmutziggrauen Wolkendecke und dem ununterbrochenen Nieselregen noch nicht danach aussieht. Dennoch sind die 15°C Außentemperatur angenehm: Auf der Haut, in den Lungen. Es ist bereits dunkel, als ich auf die Straße trete. Die Luft riecht leicht nach Viehwirtschaft und Holzfeuer; darunter mischt sich der allgegenwärtige Duft salzigen Seewinds, den man sich am Ende des Tages von den Lippen lecken kann. Es soll der letzte graue Tag sein auf Langeoog, da sind sich die Prognosen einig. Und mit der Wärme wird auch die Sonne kommen.
Bevor diese anderntags jedoch die Chance hat, in mein Schlafzimmer zu dringen und mich mit goldenem Licht zu wecken, werde ich kurz nach 6 von infernalischem Lärm aus der Wohnung über mir wach. Elefantöses Getrampel, das Anspringen einer Badlüftung; jemand strullt wie ein Wasserbüffel, begleitet von ausgiebiger Flatulenz. Die folgende Spülung klingt, als brächen die Niagarafälle durch die Decke — Ich bin wirklich schon romantischer geweckt worden. Danach wird auch die nächste Person über mir wach, Gespräche setzen ein, noch mehr Getrampel, das Vibrieren eines Mobiltelefons, noch ein Klogang: Schalldämmung scheint bei der Renovierung von Feriendomizilen gerade nicht en vogue zu sein.
Über dieses Sparen auf Kosten der Dauerbewohner breitet sich in mir Wut, die ein Wiedereinschlafen unmöglich macht; durchsetzt mit latentem Ekel über diese aufgezwungene Intimität von fremden Leuten. Und die Saison hat ja nicht einmal begonnen.
Mit der Laune unter Tage, da immer noch todmüde, quäle ich mich hoch und mache Kaffee. Die Sonne ist inzwischen über den Deich gekrochen und streichelt mit sanftem Licht Balkonblumen, Teppich und Bettwäsche. Noch ein wenig desorientiert schnappe ich mir das Kuschelkissen, das mir ein lieber Freund schenkte, einen Haufen Decken und den Kaffee und setze mich raus: Der erste echte Frühlingstag auf der Insel! Wie könnte ich ihn vergeuden?
Ich stelle mir den Freund vor und versuche statt an die ekligen Geräusche, mit denen mein Tag begann, an sein hübsches Lächeln zu denken und wie er nun, vermutlich gleichermaßen verschlafen, in seinen Kaffee guckt. Es hilft ein wenig. Auch das Sonnenlicht, das mein Gesicht berührt, ist tröstlich.
Die Leute über mir wollen den schönen Tag offenbar ebenfalls nicht verschwenden und verlassen das Haus. Eigentlich hatte ich Ähnliches vor, aber die plötzlich einsetzende, kostbare Stille treibt mich zurück aufs Bett und in die Arme erlösenden Tiefschlafs.
Als ich erwache, steht der Sonnenball bereits im Südwesten. Eine halbe Stunde Spaziergang ist erlaubt, sage ich mir, Blick und schlechtes Gewissen zwischen vollem Schreibtisch und Frühlingspracht vorm Fenster mäandernd: Eine halbe Stunde. Mehr nicht.
Es werden drei Stunden. Es gab schon mehr sonnige Tage in diesem Jahr, durchaus. Aber das jetzt ist Frühling; ich spüre seine belebende Kraft mit jedem Schritt Richtung Deich. Die Sonnenwärme fühlt sich anders an, das unvergleichliche Himmelsblau ist anders. An den Sträuchern blühen flauschige, pralle Weidenkätzchen und die Kiebitze turnen über den Äckern.
Die Entwässerungsgräben sind durch die Regenfälle der letzten Wochen zu kleinen Bächen angeschwollen, in den Dünentälern gibt es ein paar neue Süßwasserseen, in deren stiller Oberfläche sich majestätische Wolken spiegeln.
Ein Schwarm Nonnengänse landet an; die Rinder, die ich am Vorabend nur roch, käuen träge vor der Deichlinie wieder.
Es ist ein Segen, dass ich all das hier meine Heimat nennen darf.
Touristen sind nur wenige unterwegs, die sogenannten „Karnevalsflüchtlinge“ sind abgereist und die Oster-Reisewelle hat noch nicht eingesetzt. Hier draußen, mit jedem Meter Entfernung vom Dorf mit seinem Menschenlärm, wird wieder alles gut. Das Schnattern der Gänse, die walzertaktartigen Rufe der Kiebitze, der Gesang von Lerchen und Rotkehlchen, der Wind im Dünengras und die nahe Brandung — kann es schönere Geräusche geben?
Auch die Farben der erwachenden Natur rauben mir mit ihrer Schönheit den Atem. Ich betrachte das golden wogende Gras, den sattgrünen Rasen am Deich, den dunkel glänzenden Dünenbewuchs aus Krähenbeeren mit seinen gelben und grünen Farbtupfern aus Moosen und Flechten. All das möchte ich förmlich inhalieren, fühlen, umarmen und nie wieder loslassen. Jeder Blick ein kleines Gebet: Nie hätte ich gedacht, dass man ein Stück Land so sehr lieben kann. Und über und unter all dem leuchtet dieses unglaubliche Blau von Himmel und Wasser.
Es darf einfach kein Winter mehr werden, denke ich. Es darf einfach nicht. Und doch weiß man, dass der März ein fragiles Konstrukt ist.
Ein März ist kein Mai: So simpel, so wahr. Schnee, Kälte und Grau können noch jederzeit zurückkehren. Ein abgenagtes Vogelskelett am Rande des Weges zeigt mir, dass auch im Frühling nicht nur der Winter stirbt.
Das tote Tier erinnert mich an meine eigene Endlichkeit. Mein Geburtstag naht, und 44 ist keine schöne Zahl. In China, besonders im traditionell abergläubischen Süden, ist sie gar eine mittlere Katastrophe. Síshísì. Mit südchinesischem Akzent ausgesprochen: Sísísì. Der dreifache Tod. Denn die Zahl Vier, sí, ist nahezu gleichlautend mit dem Wort für „sterben“, sì. Es gibt in einigen chinesischen Hochhäusern und Hotels keine 4. oder 14. Etage. Zudem wurde ich 1976 geboren, dem sogenannten „Katastrophenjahr“, das mit einem verheerenden Erdbeben in Tangshan und dem Tod der drei Politgrößen Zhou Enlai, Mao Zedong und Zhu De in die chinesische Geschichte einging. Das Einzige, was mich aus chinesischer Sicht da raushaut, ist meine Geburt im Zeichen des Drachen, die dort als etwas Gutes gilt. Glücklicherweise bin ich in dieser Richtung nicht abergläubisch, auch wenn sich dem studierten Ostasienwissenschaftler in mir (wiewohl als solcher außer Dienst) diese Dinge zwangsläufig aufdrängen. Warum mir die Zahl dennoch nicht gefällt, kann ich nicht sagen. Sie ist wohl zu eindeutig keine Jugend mehr, aber auch noch ohne die Würde des Alters.
Für mich als Schüler waren 44jährige Männer Lehrer in Cordhosen, mit deren Kindern man in eine Klasse ging.
Farblose Personen, aber mit einer stabilen Existenz. Frau, Haus, fortgepflanzt, einige geschieden. Bausparverträge, Eigenheim. Die meisten waren nie weiter als 20km von ihrem Geburtsort weggezogen. Die Zähne schlechter werdend, die Haare dünner. Ich konnte mir diese Leute weder als Kinder noch als Greise vorstellen, sie waren halt irgendwie da und lebten unauffällig ihre Jahre ab.
Am Strand angelangt, lege ich mich kurz in die Sonne und dehne die schmerzenden Lendenwirbel. Irgendwo merkt man das Alter halt doch. Mit geschlossenen Augen lasse ich das Rollen der Brandung seine akustische Heilwirkung tun. Die Sonnenwärme entknittert spürbar die Winterseele.
Während ich dem Flutsaum heimwärts folge, formt sich in mir der Wunsch nach einem gnädigen Frühling. Nach warmen, schönen Tagen der Stille, bevor die Saison wieder lostobt. Nach Arbeit, die leicht von der Hand geht; nach dem Schutz eines stabilen Zuhauses, das mich vom akustischen, sozialen, politischen und sonstigen Wahnsinn der Welt für eine Weile abschirmt. Ich wünsche mir ein Jahr ohne existenzielle Geldsorgen, mit angstfrei verplanbaren Urlaubswochen, ohne Todesfälle in der Familie und bei guter Gesundheit: Es sind wohl die typischen Sehnsüchte eines langweiligen Mittvierzigers.
Und doch möchte ich vors dreifache Sterben erstmal noch eine Menge Leben setzen.