Das Wetter ist nahezu statisch. Seit drei Wochen gibt es kaum eine Änderung. Die Sonne scheint aus einem wolkenlosen, beinahe absurd blauen Himmel. Der Wind ist unspektakulär; an den letzten Regen kann ich mich kaum erinnern. All das bietet eine wundervolle Kulisse für Fotos erwartungsfroher Strandkörbe, niedlicher Jungtiere und roséfarbener Blütenpracht. Die späte Sonne zaubert mit warmgoldenem Glanz den Menschen Jahre aus dem Gesicht, erste Surfer gleiten pittoresk durch silberschimmernde See.
Mir macht der ausbleibende Regen indes ein wenig Sorgen: Lässt nicht schon das erste zartgrüne Kastanienlaub wieder Anzeichen von Schlaffheit erkennen, kaum, dass sich die Blätter entfaltet haben? Färbt sich der Deich mit seinem märchenhaften Gänseblümchenteppich nicht schon langsam braun? Und die Tiere, finden sie genug Süßwasser?
Der Stillstand beim Wetter kann nicht ewig andauern: Die Folgen wären fatal.
Ähnliches gilt für den Corona-bedingten Stillstand des Tourismus auf den Inseln und an den Küstenorten. Erste ernstzunehmende Hilferufe werden laut; auch eigentlich wohlhabende Menschen müssen inzwischen anfangen zu rechnen. In Personalgesprächen werden Existenzen verhandelt; die Behörden ersticken unter Hilfsanträgen. Unnötige Käufe werden vermieden; Fixkosten summiert, Geldreserven geprüft. Dahinter die bange Frage: Wie lange noch? Ein Freund, der ansonsten ein leuchtendes Beispiel für Optimismus und kreative Schaffenskraft ist und daher gleich mehrere wirtschaftliche Standbeine unterhält, traut sich als erster aus dem nahen Umfeld, mit einem klaren Wort an die Öffentlichkeit zu gehen: „Wir können nicht mehr“, posted er. — Es bricht mir das Herz. Schließlich war es genau dieser Freund, der mich über viele Sommer hinweg mit enormer Großzügigkeit bei Kost und Logis bedachte, ebenso wie mit freigiebiger Unterstützung meines eigenen Kunstschaffens. Und nun kann ich nicht viel mehr für ihn tun, als ein paar Dinge im Onlineshop seines Lädchens zu kaufen, so wie ich auch bei anderen Freunden hier und da etwas kaufe, um wenigstens einen Hauch von Not zu mildern, wiewohl auch mein Finanzpolster mehr denn je geradezu fadenscheinig dünn ist. Aber wenn wir als Kleinunternehmer und Künstler nicht genau jetzt zusammen halten — wann dann?
Und immerhin, so denke ich mit einer Art leisen Beschämtseins, geht es bei uns ja nur um die wirtschaftliche Existenz. In Nachbarländern geht es um viel mehr. Dort müssen Ärztinnen und Ärzte entscheiden, wer das letzte Beatmungsgerät bekommt; deutlicher ausgedrückt: Wen sie sterben lassen müssen. Zoos denken über Notschlachtungen nach. Was für ein Gefühl muss es für einen Tierpfleger sein, seinem Elefanten, den er vielleicht seit 30 Jahren pflegt, dem er vielleicht einst eine große Milchflasche ins graue Mäulchen schob, bevor der Elefant zu einem stattlichen Bullen heranwuchs — was für ein Gefühl muss es für einen Pfleger sein, ein letztes Mal in die langbewimperten, weisen Augen dieses Tieres zu sehen, bevor der Tierarzt mit dem Giftpfeil kommt? Um mir die Situation der Entscheidung über ein Menschenleben näher auszumalen, fehlt mir die Kraft. Ich ertrage es nicht. Und weiß doch um die Menschen, die es vielleicht genau in dieser Minute ertragen müssen: Die Schuld. Die Ohnmacht. Die Trauer der Angehörigen. Die Wut. Die Hoffnung der Menschen, deren Angehöriger weiterleben darf.
Es muss weitergehen. Auch in meinem Bekanntenkreis gibt es nun die ersten Infizierten; in Schweden betrauert ein Freund seinen Schwiegervater. Aus dem ersten Infektionsfall in Deutschland — an die Berichterstattung erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen — sind mittlerweile 140.000 Fälle geworden. Wenn dieser Text als Buch erscheint, sind wir mit den Zahlen Gottweißwo. Aber hoffentlich noch am Leben.
Die Insel habe ich nun seit zwei Monaten nicht verlassen. Mir macht das nichts aus, denn noch immer sind wir — bin ich — auf Langeoog überaus privilegiert. Die Natur bietet genügend Auslauf, um sogar einen Mindestabstand von einem Kilometer einzuhalten, wo nötig. Die Läden sind zur Genüge bestückt. Ich beziehe noch mein reguläres Gehalt, wenn auch auf mittlerweile dünnem Eis. ich habe eine Wohnung, in der ich mich wohlfühle und einen Menschen bei mir, der mir in all dem Surrealen täglich ein Gefühl von Wirklichkeit zurückgibt; der mich von innen und außen wärmt und mir nahe ist.
Auch die Kirche ist nach wie vor geöffnet und streckt mir die weit aufgesperrten Türflügel entgegen wie die Arme eines Freundes: porta patet, cor magis.
Diesen Leitspruch der Zisterzienser hat unsere Pfarrbeauftragte auf einem Schild in die Kirche gestellt — Die Tür steht offen, das Herz noch mehr.
Die Erinnerung an diesen Orden wiederum lässt mein Herz aufgehen wie die Blüten der Kirschbäume in den Gärten rund um St.Nikolaus. So weit weg scheint mir die Erinnerung an den tiefen Frieden im Januar, als ich mein Heil zwischen altehrwürdigen Klostermauern fand; nichtsahnend, in was sich die Welt nur wenig später verwandelt haben würde. Inzwischen ist natürlich auch dort der Ausnahmezustand eingetreten, dem man bestmöglichst und mit tiefem Gottvertrauen entgegenwirkt — aber in meiner Erinnerung ist der Anblick schwarzweißer Gewänder, der Widerhall eilender Schritte und flatternder Chormäntel, der Klang der Stiftsglocken und der Geruch nach Kerzen und uralten Steinen noch immer verknüpft mit einem Gefühl von Klarheit, Geborgenheit, Zuversicht und einer ungeahnt reinen Form von Liebe. Und über all dem liegt diese heilende, nährende Form von Stille, die von dem furchteinflößenden, beunruhigenden und gespenstischen Stillstand des Jetzt nicht weiter entfernt sein könnte.
Ich vermisse meine Eltern und meine Freunde. Es macht einen Unterscheid, ob man sich Monate nicht sieht, weil man gerade keine Zeit oder kein Geld hat, aber es theoretisch könnte — oder ob es schlicht unmöglich ist.
Ein noch recht neuer Freund, den ich aber sehr liebgewonnen habe, hängt seit einigen Wochen quarantänebedingt in Niedersachsen fest. Normalerweise wohnt er wesentlich weiter weg. Nun aber könnte ich sogar für einen Tagesausflug bei ihm sein, wenn nicht der Virus zwischen uns stünde, eine angeordnete Kontaktbeschränkung und eine nichtfahrende Bahn und ein nichtfahrender Bus. Alles vernünftige Maßnahmen, zweifelsohne, aber trotzdem fühlt es sich absurd an. Denn nun ist da diese Sehnsucht. Nach Normalität im Allgemeinen, dem Freund im Besonderen, und ich wünschte, ich könnte mit ihm in Teetassen rühren und über die wolligen Schafe am Deich lachen, mir sein Gesicht in Erinnerung rufen und seine Stimme. Natürlich kann man telefonieren, was wir auch tun; man kann über die sozialen Medien Kontakt halten, auch das geschieht. Dennoch ist da die diffuse Angst, dass die Erinnerung an gemeinsam verbrachte Tage, das freundschaftliche Gefühl gar, nach und nach verschwimmt wie ein Aquarell und sein liebes Gesicht mit dem schlemischen Grinsen bald nur noch eine Ahnung im längst entpackten Reiseköfferchen ist. Womöglich, denke ich, ist alles, was irgendwann von ihm bleibt, diese Zeile aus einem alten Roxette-Song: „All I knew / your eyes so velvet blue.“
Auf der Insel gibt es derweil zaghafte Schritte voran. Einige Läden öffnen für ein paar Stunden, erste Restaurants bieten wieder Essen zum Mitnehmen und Abholen an. Man kann Blumen kaufen und Eishörnchen. Die Plankenwege werden am Strand ausgelegt, als wäre das Schiff mit der ersten Fuhre Tagestouristen schon unterwegs zum Hafen. Fröhlichbunte Strandkörbe werden von Inselbewohnenden probegesessen. „Das ist wie Urlaub“, sagt meine Freundin, als wir auf meinem Balkon in der Sonne Kaffee trinken und sie ihr hübsches Gesicht den wärmenden Strahlen entgegenstreckt. Das Vogelkonzert aus dem Nachbarsgarten dröhnt geradezu in die Stille des Morgens. Ja, denke ich: Es tut gut, für einen Moment zu vergessen, dass das hier keineswegs Urlaub ist.
Und so planen wir eine Zukunft, die mehr als ungewiss ist; abends sehe ich mir im Internet eine Modestrecke und schönes Interieur an. Ich weiß nicht, ob ich mich dafür schämen muss, aber ich spüre, dass mir diese Oasen der oberflächlichen Unbekümmertheit gerade jetzt guttun. An Urlaub denken, an schöne Kleidung und neue Ideen für die Wohnung. Daran, dass ich all das vielleicht bald nicht mehr bezahlen kann, denke ich diesmal nicht.