In zwei Wochen wäre ich in Polen gewesen. Genauer: Masuren, Ostpreußen. Die Heimat meiner Vorfahren. Gräfin von Dönhoffs Kindheitserinnerungen las ich längst, ebenso Ralph Giordanos großartiges „Ostpreußen Ade“. Auch Lenzens „Suleyken“ steht ausgelesen neben meinem Bett. Ich pflügte mich — trotz veritabler Abneigung gegen den zeitgenössischen Ableger — durch Jahrhunderte an Deutschordensgeschichte, um vor der mächtigen Marienburg nicht dazustehen wie der berühmte Ochs vorm Tor. Ich kaufte sündteure High-Tech-Ohrstöpsel gegen Vatterns Schnarchen im zu teilenden Hotelzimmer und ein gewaltiges Waffenarsenal gegen die Legionen masurischer Mücken, die wohl so Manchem schon laue Abende an ansonsten wunderschönen Seen verleidet haben. Ich frischte meine 8 Worte Polnisch auf und träumte von Eisvögeln im Schilf, von Schmetterlingwiesen, abgelegenen Gehöften, silbrigen Seewellen, prachtvollem Katholizismus und Unmengen Historie. Von Kahnfahrten, Kanälen mit Schwänen, Kalorienbomben mit Sauerkraut und träumenden Wäldern:
Vorbei.
Ostpreußen ist nicht. Und der Grund heißt Corona.
Es geht mir in dieser Hinsicht also nicht besser als es den unzähligen Langeoog-Fans geht, die seit Wochen mit den Hufen scharren und nicht wissen, ob ihr Urlaub nun stattfinden wird oder nicht. Einige davon können nun aufatmen, denn ab Montag gibt es wieder Touristen auf der Insel; die Zweitwohnungsbesitzer dürfen bereits seit Mittwoch wieder anreisen. Etliche ließen sich nicht zweimal bitten. Heute ist Donnerstag.
Am Mittag wandere ich einmal mehr durch eine unfassbar schöne Stille, die mir Gebet und Gesang zugleich ist. Am Strand höre ich nichts außer dem leisen Rauschen der Wellen; es gibt kaum Wind. Die Sonne wärmt zumindest ein wenig in diesem noch viel zu kalten Mai; hungrige Möwen werfen ihre kreisenden Schatten auf den Sand. Kein Fischbrötchen nirgends: Auch für die Tiere ist dieser Frühling ungewöhnlich. Ob die überhaupt noch wissen, wie man sich selbst Nahrung sucht?, frage ich mich und werfe einen Blick nach oben. Das Möwengeschwader zeichnet sich leuchtend weiß vor einem überwältigend blauen Himmel ab. Satt, dunkel, intensiv — ein Blau, wie man es nur auf kostbarsten Darstellungen der Gottesmutter findet; ein Marienmantelblau im Marienmonat Mai. Aber ohne Marienburg. Szkoda!
Ich liebe Langeoog. Aber der geplatzte Traum von der Reise nach Masuren betrübt mich. Schon lange war keine Reise mehr so lange vorher geplant, so gründlich vorbereitet, von so viel Vorfreude begleitet gewesen. Natürlich: Man kann das nachholen. Und ja, es ist nur ein Urlaub. Was ist das schon gegen das höchste aller Güter, die Gesundheit, die meines Vaters noch dazu? Es ist nunmal höhere Gewalt, und ich kann nur Gott danken, dass der Corona-Kelch bislang an meinem engsten Umfeld vorüberging. Wie lange der Virus die Insel noch weitgehend verschonen wird? Der Realist in mir gibt den LangeoogerInnen nach der Wiederbelebung des Tourismus nur noch wenige Wochen. Der Asthmatiker in mir hat Angst und tastet nach dem Inhalator in seiner Tasche.
Auch den Herbsturlaub hatte ich schon gebucht: Ein weiterer Traum von Wald und Stille; strenge Schweigeexerzitien in einem abgelegenen Konvent. „Hier gibt es kein Mobilfunknetz, wir sind wirklich mitten im Wald“, erklärte der Gastpater beim Vorgespräch, „nur für den Fall, dass Sie es heimlich versuchen.“ „Hatte ich nicht vor“, erklärte ich. Aber damals hatte ich ja auch noch keine Angst um die Gesundheit mir lieber Menschen, um meinen Arbeitsplatz, und eine Freundin hatte ich auch noch nicht. Meint: Sogar für jemanden wie mich, der sich um direkte Kommunikation nicht übermäßig reißt, bekam der Terminus „in Verbindung bleiben“ doch etwas höhere Priorität in den letzten Wochen.
Dennoch möchte ich hin; vielleicht sogar mehr denn je. All die Ereignisse der letzten Wochen, all das Neue und Ungewohnte, das Schöne und Schreckliche — ich sehne mich danach, all das in Ruhe sortieren und verarbeiten zu können; ebenso wie danach, noch einmal aus neuer Perspektive an Gott herantreten zu können und Verpasstes nachzuholen.
Ich gehe täglich für ein stilles Gebet zur Kirche, aber die Sehnsucht nach einer Eucharistiefeier und der Schönheit katholischer Liturgie ist groß.
Die Unruhe dieser Zeit und das Unstete, das diese Krise in den Seelen der Menschen anzurichten vermag, mehrt in mir die Sehnsucht nach Stille. Nach dem Maximum an Stille, das mir ein Urlaub bieten kann. Eine absurde Sehnsucht in diesen Tagen auf Langeoog — eigentlich. Denn ist es nicht so still und schön wie nie zuvor in einem Frühling? Im Dorf blüht der Flieder; erster Rosenduft weht durch die Dünentäler, die nach den Regengüssen der letzten Tage wieder prachtvoll ergrünt sind. Rehe springem einem ohne Scheu in den Weg, Fasane weichen kaum noch vom Fleck, wenn man sich ihnen nähert. Mensch und Tier funktionieren hier als Schicksalsgemeinschaft, solange der Mensch nicht zuviel Raum einnimmt. Aber bald schon wird wieder Lachen, Schreien und Fahrradklingeln durch die Straßen hallen; bald wird die einsame Krähenspur am Strandübergang von hundert Menschenfüßen verwischt sein. Bald werden sich auch die Kassen der Inselgemeinde, der Geschäfts- und Privatleute wieder füllen; für das Überleben auf der Insel notwendig, zweifelsohne.
Aber die Stille war schön. Und die Träume waren es auch.
Den berüchtigten Inselkoller, den mir hämische Bekannte vor meinem Umzug nach Langeoog schon nach drei Wochen an den Hals wünschten, hatte ich bisher noch keinen einzigen Tag. Ich will nicht woanders leben. Nie. Und obwohl die Vorfreude auf viele Reisen und Ausflüge groß war, übertraf bislang noch nichts die Freude der Heimkehr. „Sechs Jahre — und ich kann es manchmal immer noch nicht fassen, dass das hier kein Urlaub ist. Dass ich wirklich hier lebe“, sage ich beim abendlichen Strandspaziergang und drücke den Menschen in meinem Arm noch etwas fester an mich. Wir können das jeden Tag haben. Ich muss nicht mehr stundenlang fahren und Unsummen dafür ausgeben, um am Meer zu sein. Ich gehe einfach die Straße hoch; manchmal allein. Manchmal nicht. Und dann liegt es vor mir, in all seiner Pracht; im Wechsel der Jahreszeiten, atemberaubend schön in einfach jedem Zustand. Ob sturmzerwühlt, in frühlingsblauer Unschuld oder grau verregnet: Ich liebe das Meer.
Nur manchmal, da träume ich mir die Umrisse eines Sees in die glitzernde Wasserfläche. Mit Schilf an den Ufern und Eisvögeln. „Und schau mal, die Wolken heute“, sage ich zur Freundin: „Sehen sie dort nicht aus wie die Spitzen eines Nadelwaldes?“