Momentaufnahme, Normalität

Die Straße vor meinem Haus gleicht zuweilen einer Autobahn. Ohne Autos versteht sich — aber auch mit Fahrrädern, E-Karren und Pedelecs herrscht tagsüber soviel Betriebsamkeit, dass es oftmals dauert, bis ich mit meinem eigenen Fahrrad aus der Einfahrt komme; von Straßenquerung gar nicht zu reden. Seit knapp einer Woche ist die Insel wieder für Touristen geöffnet, wenn auch noch mit Einschränkungen. Tagesgäste sind noch nicht erlaubt, Hotel- und Pensionsurlauber werden in Kürze hinzukommen. 
Doch auch jetzt ist es schon so voll, dass es mir scheint, als hätte ich den unwirklich stillen Frühling nur geträumt. Es gibt wieder spürbar Saisonbetrieb auf der Insel. Und doch ist noch lange nichts normal.

In den Supermärkten herrschen strikte Verhaltensregeln. Man sieht viel Disziplin, aber auch einiges an Achtlosigkeit. Es gibt rote Punkte auf dem Boden als Abstandshalter, die man eigentlich nicht übersehen kann. Etliche stellen sich auch wie vorgesehen darauf: Was dem Hintermenschen aber nur soweit nützt, wie die hinzugekommende Familie des Anstehenden nicht um diesen herumtanzt und sich so dazwischenquetscht: Laute (=aerosollastige) Diskussionen darüber, was man noch einzukaufen vergessen haben könnte, tun ihr Übriges. In der Nachbarschaft gehen Einladungen zu Gartenfesten herum: Zweitwohnungsbesitzende aus allen Bundesländern scharen sich dabei wohl eher ohne Mindestabstand um den Grill, und am Abend sieht man weinselige Runden im Dorf die Köpfe zusammenstecken. Ein Kind in der Warteschlange für die Fähre rennt zu fremden Mitreisenden und macht mit speichelnassen Lippen Furzgeräusche an deren Hosenbeinen. Die Geschwister schreien gelangweilt aus weit aufgesperrten Rachen. Die mundschutzverhüllte Mutter sieht müde und sehr verzweifelt aus. 

Erneut fällt mir nicht ohne Unbehagen auf, wie sehr ich meine Mitmenschen neuerdings auf ihre Virenschleuderqualitäten hin überprüfe. Anstatt mich — wie sonst üblich — über den Inhalt unfreiwillig mitgehörter Gespräche oder mieses Benehmen aufzuregen, ist es nun der potentielle Tröpfchenausstoß, der meinen Unmut schürt, und ich frage mich, wann mich der Virus wohl erwischen wird. „Ob“ frage ich mich dagegen nicht mehr.
Es ist schwer, optimistisch zu sein dieser Tage.
Und es ist eine seltsame Saison: Fremd und beängstigend, auch wenn sich fast alle Langeooger Geschäftstreibenden — der wirtschaftlichen Not gehorchend — große Mühe geben, dem Wahnsinn einen Normalitätsanstrich zu verleihen, so gut es im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben geht.

Jeder weiß, dass dieser Anstrich dünn ist. Doch auch an mir nagt zunehmend die Sehnsucht nach „Business as usual“. Nicht in Bezug auf das gewohnte Gästeaufkommen, das nach meinem Empfinden in der Hauptsaison inkl. Tagesgästen längst den Rahmen des Verträglichen sprengt. Nicht in Bezug darauf, dass ich es plötzlich schätzen würde, wenn mir Leute zu dicht auf die Pelle rücken. Und schon gar nicht in Bezug auf große Menschenansammlungen. Was diese Dinge betrifft, so behielte ich einige der Corona-Einschränkungen gerne bei. Aber mir fehlt die Leichtigkeit in allen Dingen: Das Unbekümmerte. Mir fehlt die Zeit, als Mitmenschen maximal nervtötend waren, aber i.d.R. keine physische Bedrohung darstellten. Und mir fehlt die Zeit, in der ich noch nicht damit rechnen musste, vielleicht selbst einmal am Tod eines älteren oder vorerkrankten Mitmenschen Schuld zu sein: Durch ein zu feuchtes nettes Wort, durch eine unbedarfte Nähe. Und ich wünschte, ich hätte nie eine Zeit kennengelernt, in der ich meine Freundin mit einem Kuss auf die Intensivstation befördern könnte oder meine Eltern mit einer Umarmung auf den Friedhof. Wie kann man, frage ich mich, die Schuld aushalten, vielleicht 14 Tage am Stück fröhlich Viren verbreitet zu haben, bevor man selbst etwas von der Infektion bemerkte? Wenn es mich erwischt, denke ich, dann möchte ich bitte wenigstens gleich krank sein.

Ich weiß, dass nichts normal ist. Und doch ist die Sehnsucht nach einer Illusion von Normalität, von Unbeschwertheit so groß, dass wir an Himmelfahrt einen Ausflug wagen. Es ist der bislang wärmste Tag in diesem Jahr, die Bedingungen für einen Hauch von Feriengefühl könnten nicht besser sein.
Im Schlosspark, den wir besuchen, überdachen uns die sonnendurchfluteten Kronen hoher, alter Eichen; unzählige Vögel singen unter dem leuchtend grünen Gewölbe, als wäre es ein Konzerthaus.
Die älteste Eiche im Park zählt 300 Jahre. Sie hat beide Weltkriege überlebt, Blitzeinschläge und unzählige Krankheiten. Was sind wir dagegen schon, frage ich mich, den mächtigen Stamm betrachtend.
Wir picknicken auf einer Bank gegenüber, den majestätischen Baumriesen auf seiner Wiese im Blick. Die Eiche wirkt nicht einsam, wie sie da steht — eher so, als machten ihr alle anderen Bäume respektvoll Platz.

Die Rhododendronblüte ist fast vorbei, aber überall im Park riecht es nach Blumen und die Azaleen stehen noch in voller Farbenpracht. Eine nette ältere Dame fotografiert uns davor. Es könnte ein ganz normaler Ausflug sein: Menschen die das Wetter genießen, das Grün, die Blumen und wundervollen Sichtachsen. Vom Schloss her hören wir die Pfauen schreien.

Aber es ist nicht normal. Im Schlossparkcafé herrscht eine strenge, aber gesittete Atmosphäre. Wir stellen uns mit Abstand und Mundschutz an, alle paar Meter steht ein Desinfektionsmittelständer für die Wartenden, Speisekarten liegen nur am Tresen aus. Viele Tische und Stühle sind weggeräumt oder mit Kunststoffband abgesperrt.
Ich erinnere die vielen Male, die ich alleine hier war oder mit meinen Eltern. Wie schön man in diesem Café mit seinen alten Weinranken die Zeit vergessen konnte oder in seinem herrlichen Außenbereich die Sonne genießen; dabei in einem neuen Buch stöbernd, das man im hübschen Parklädchen erworben hatte. Auch heute ist es schön, aber vor endlosem Müßiggang warnt das Gewissen: Sehr viele Menschen warten auf nur wenige Tische, und so ziehen wir bald weiter. Immerhin, es ist der erste Festlandsbesuch nach drei Monaten. Der erste Cafébesuch. Eine hauchzarte Illusion von Normalität — in Dingen, die man vor der Corona-Krise nie in Frage gestellt hätte.