Mit dem Eintreffen der Inselbahn für die 7:10-Uhr-Fähre bricht die Sonne durch die Wolken. Wenig später hat sich die Wolkendecke ganz aufgelöst, hier und da zieren noch ein paar winzige Cummulus-Flöckchen den türkisfarbenen Morgenhimmel. Um diese Uhrzeit sind fast nur Insulaner unterwegs, die zu Besorgungen aufs Festland müssen, zum Arzt oder Ähnliches. Das aus Bensersiel eintreffende Schiff spült zunächst eine Ladung ArbeiterInnen auf den Kai; danach werden sofort die Fahrgäste für die Gegenrichtung an Bord gelassen. Abstand halten ist schwierig; dennoch geht das Procedere ruhig und halbwegs gesittet vonstatten. Ich bleibe an Deck, um wegen der Maske besser atmen zu können. Und um mir die Insel endlich einmal wieder aus Touristen-Perspektive ansehen zu können. Denn der einzige, der hier gerade Urlaub macht, bin vermutlich ich.
Tatsächlich verlasse ich die Insel das erste Mal seit Januar wieder für mehrere Tage. Vor uns wendet das Frachtschiff im Hafenbecken. Ich schaue auf seine sprudelnde Hecksee und frage mich, was ich wohl fühlen würde, wenn dies jetzt ein Abschied für immer wäre. Wenn ich die Insel nicht nur für 5 Tage verlassen würde, sondern auf unbestimmte Zeit. Wenn ich dort keine Heimat mehr hätte.
Es ist mir unerträglich. Die anderen Leute an Bord, die Geräusche, sogar das Wendemanöver des hellblauen Frachters — All das verschwindet auf einmal, während sich Herz und Augen an den Konturen der Insel festsaugen, die mit dem Ablegen der Fähre immer kleiner wird. Bald ist der Wasserturm nur noch ein winziger weißer Strich; kurz vor dem Übergang zum Ostende wähne ich meine Wohnung, die still meine Wiederkehr erwartet. All meine Sachen sind darin; meine Bücher, mein ganzes Leben. Und ein paar Meter Luftlinie davon entfernt macht sich der Mensch, der zu mir gehört, wohl gerade für die Arbeit zurecht.
Der Duft aus Salzwasser und Schiffsdiesel, die Schreie der Möwen und die Morgensonne, die das Meer glitzern lässt; die letzten sichtbaren Meter grünendes Ostende: Es ist Heimat. Die Liebe zur Insel ergreift mich plötzlich wieder in einem Ausmaß, das mich nach sechs Jahren fast schon überrascht. Natürlich: Es gab keinen Tag, an dem ich die Wunder der Schöpfung hier nicht täglich aufs Butterbrot geschmiert bekam. Die Langeooger Natur ist überirdisch schön. Aber was ist mit den menschengemachten Hässlichkeiten? Gibt es hier nicht genauso viele UnsympathInnen wie anderswo; nicht mindestens genauso viel Gier, Falschheit, Dummheit und Bösartigkeiten? Ja. Aber einmal mehr ist mir das alles nur egal: „Ich bin hier, weil ich hier hingehör’“, singen MIA in einem Lied meiner jungen Erwachsenenjahre, das inzwischen auch schon uralt ist. Dass ich für etliche „Ureinwohner“ hier eben nicht hingehöre und nie hingehören werden — wie jede Person, die nicht mindestens 10 Häuser mit Abkömmlingen aus 4 Generationen besetzt —: Geschenkt. Es ist auch mein Langeoog.
Unser Langeoog, korrigiere ich mich im Geiste, denn nun gibt es hier ja noch jemanden, den ich in meine Zukunft einplanen muss. Ein Zustand, der, so schön er auch ist, tatsächlich noch ein wenig Gewöhnung bedarf.
Nun aber bin ich erst einmal allein unterwegs. In einem nicht allzuweit entfernten Städtchen warten die Eltern auf mich. Die Freundin wird in Kürze nachkommen, und so sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben für eine Weile vereint und man hat ein wenig Burggefühl in diesen wahnsinnigen Zeiten.
Ich sehe dem Urlaub ruhigen Herzens entgegen. Im Hafen von Bensersiel schaukeln weiße Segelboote. Ich versuche, die hübschen Böötchen jetzt gänzlich mit den Augen eines Touristen zu betrachten: Einfach die Schönheit genießend, ohne Pläne, ohne Termine. Es ist pures Glück. Ich freue mich auf die Reise — Aber auch schon jetzt auf die Wiederkehr.