Von den heißesten Tagen auf Langeoog bekomme ich nichts mit. Der Hochsommer, von den Touristen lange ersehnt, hat endlich Einzug gehalten und Temperaturen um 30°C locken alles, was sich bewegt, in und an die Nordsee.
Ich bewege mich nicht. Ich liege mit Fieber, gegen das die Außentemperatur ein erfrischender Hauch ist, im Bett. Zum Glück hat mich auch diesmal kein Coronavirus niedergestreckt, sondern eine profane Mandelentzündung — ein Spaß ist es trotzdem nicht. Vor allem, weil ich sie viel zu spät als solche wahrnahm. Die tagelange bleierne Müdigkeit? Überarbeitet. Das Gefühl vollkommener Erschöpfung? Psyche. Die Kopfschmerzen, der Stimmverlust, der Kloß im Hals? Psyche. Eine aufziehende depressive Episode, sicherlich: „Hello darkness, my old friend“.
Bei der chronifizierten Form der Depression, die ich seit 30 Jahren hinter mir herziehe wie einen mal mehr, mal weniger schweren Schleppanker, gibt es schon lange nichts mehr an klassischen Symptomen einer Depression wie Traurigkeit oder Gedankenkreiseln. Irgendwann treten an diese Stelle episodisch nur noch Schwere und Leere — in Einheit mit verschiedenen körperlichen Malaisen. Diese psychosomatischen Beschwerden von akuten körperlichen Erkrankungen abzugrenzen fällt, wie ich zu meinem Entsetzen feststellen muss, sogar mir zunehmend schwer. Ansonsten hätte ich mir sicher ein paar Tage früher mal in den Hals geguckt; hätte ich rechtzeitig Antibiotika besorgt; wäre das Fieber nicht so ausgeartet. Ja: Hätte.
Indes bringt mich das auf ein Thema, mit dem viele Menschen, die irgendwann in ihrem Leben mal eine psychische Krankheit hatten (oder dauerhaft haben) zwangsläufig konfrontiert werden: Dem Abgestempeltsein als „Psycho“, der sowieso nichts hat außer eben … you name it. Und so hat wohl jeder seine Erlebnisse mit ÄrztInnen, die körperliche Untersuchungen verweigern, weil sie nach Lektüre der Krankenakte grundsätzlich von Psychosomatik ausgehen (der nette Inselarzt sei hier ausdrücklich ausgenommen). Oder mit Versicherungen, die einen als Kundschaft ablehnen, weil man irgendwann im Leben mal eine Therapie gemacht hat — Als sei es gesünder, seelische Probleme unbehandelt zu lassen.
Dass es in Bezug auf seelische Krankheiten für manche Menschen und Behörden noch immer ein Stigma ist, sich ärztliche Hilfe gesucht zu haben, ist für mich ein ausgewachsener Skandal. Würde man einem Menschen applaudieren, der sich ein gebrochenes Bein nicht schienen lässt? Würde man nicht sagen: Du spinnst, ab zum Arzt mit Dir! — Warum also, frage ich mich, funktioniert das nicht auch mit einem gebrochenen Herzen? Warum wird man mit einem Schatten auf der Lunge sofort in die Klinik gescheucht, aber bei einem Schatten auf der Seele kommt „Lach doch mal, ist schönes Wetter?“
Man könnte jetzt leicht „von Hölzken auf Stöcksken“ kommen, wie wir im Ruhrpott sagen: Dass die Tabuisierung psychischer Krankheiten an den ererbten Kriegstraumata liegt, wo man über die massenweisen Verzweiflungssuizide und das Kriegszittern rückkehrender Soldaten auch nicht sprach. Und an einer giergetriebenen, haifischkapitalistischen und sozialdarwinistischen Gesellschaft, die alles, was auch nur ansatzweise nach Psychiatrie riecht, unter „unzurechnungsfähig“, „Minderleister“ und „wirtschaftliche Belastung“ einsortiert. Und so weiter. — Der Gründe sind viele, und eigentlich verdient jeder davon ausführliche Betrachtung.
Umso mehr erschüttert mich, dass ich selbst in dieses Muster verfalle: Das bisschen Hals ist so lange psychisch, bis es eitert.
Jedenfalls ist draußen Sommer, was sich an der Geräuschkulisse im Haus und umzu auch deutlich abzeichnet. Da mich rasende Kopfschmerzen am Musikhören oder Fernsehen hindern, die Wohnung wahnsinig hellhörig und das Fenster witterungsbedingt zwangsläufig auf ist, gibt es kaum ein Gespräch, das ich nicht mitbekomme. Die Leute erzählen sich ihre Erlebnisse vom Strand und aus dem Dorf; die lautgestellten Telefone lassen auch gleich Tante Gerdas Antworten am anderen Ende der Leitung auf Langeoog erschallen: Der Cousin hat jetzt auch sein Abitur. Gestern gab es Pfannkuchen. Die Tochter will jetzt auch unbedingt diese Schuhe.
Auch in der Nacht ist es nicht still. Die Menschen sitzen auf ihren Terrassen und Balkonen; im Viertelstundentakt rasen betrunkene Jugendliche auf Rädern vorbei. Aus einer Musikbox dröhnt irgendwas mit Bayern und Deutscher Meister, Mädchen kreischen, Jungs johlen.
Auf den Genuss einiger ruhiger Minuten auf dem eigenen Balkon muss ich lange warten: Dann aber singen die Grillen und der warme Sommerwind streicht über die schweißfeuchte Haut. Ein unvorstellbarer Luxus.
Ein lieber Freund bringt mir Medikamente und Trost vorbei; mit dem Einsetzen der Wirkung geht es zunehmend bergauf. Nach 5 Tagen in der Wohnung wage ich mich erstmals vors Haus. Das Meer sehe ich leider immer noch nicht. Denn der Strand ist zu weit weg, das instabile Gehen auf Sand einem instabilen Kreislauf vermutlich auch nicht zuträglich, und die zu erwartenden Menschenmassen schrecken mich ebenfalls ab. Also schleiche ich nur ein Stück die Straße hinunter und wieder zurück.
Aber natürlich reicht das auf Langeoog aus, um schon irgendwen zu treffen, der einen kennt. In meinem Falle ist das ein sympathisches älteres Ehepaar, das häufig in der Kirche ist. Sie stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien und haben sich hier nach der Flucht vor dem Krieg eine Existenz aufgebaut. Manchmal deutet die Frau an, was sie erlebt hat, und es erschüttert mich. Es sollte nicht sein, dass Krieg (egal welcher) für so viele Menschen noch bittere Realität ist — und nicht nur etwas, wovon die Großeltern sich zu erzählen weigerten. Auf jeden Fall begegnen mir die beiden immer gütig und freundlich und ich habe einen Heidenrespekt vor ihrer Lebensleistung.
Und was auch schön ist: Sie haben mich vermisst. „Du warst schon lange nicht in der Kirche“, sagt die Frau, „geht es dir nicht gut?“ Ich erkläre ihr meinen Zustand und dass ich es selbst bedauere, es nicht zur Messe zu schaffen zurzeit. Aber auch die Kirche ist noch zu weit, wenn der Körper nicht will. Das ist wohl einer der wenigen Nachteile einer autofreien Insel: Man kann sich kein Taxi nach St. Nikolaus bestellen. Und für das Bestellen der Krankenkommunion fühle ich mich noch nicht krank genug.
Die beiden ziehen nach dem Austausch guter Wünsche ihrer Wege und ich denke darüber nach, was für ein starkes Instrument der sozialen Kontrolle der Kirchgang in früheren Zeiten gewesen sein muss. In dem Fall, dass man sich um jemanden sorgte, der plötzlich nicht mehr kam, war das sicher etwas Gutes. Oder im Fall, dass man Blessuren und blaue Augen an Kindern oder Ehefrauen sichtete oder sonstige Indizien häuslicher Gewalt wahrnahm und ggf. den Pfarrer nachhaken lassen konnte (der ja damals auch noch eine Instanz war).
Aber sicher nutzten viele die allsonntägliche Gemeindeversammlung auch zum Tratsch: Welche Paare sitzen nicht mehr nebeneinander, wer trägt ein zu gewagtes Kleid oder gar ein ärmliches? Wessen Bauch wölbt sich verdächtig, wer übertüncht seine Schnapsfahne mit billigem Parfum?
Andere wiederum werden den Kirchgang zum Angeben benutzt haben: Instagramm gab es ja noch nicht. Also wurde der teuerste Sonntagsstaat rausgekramt, der juwelenbesetzte Rosenkranz, das Gotteslob in goldgeprägtem Etui. Die Kinder gebadet und gescheitelt und stocksteif zurechtgesetzt, die Münder so fest geschlossen wie die Knie der anwesenden Damen unter den wadenlangen Röcken. Damit alle sahen: Man hatte sein Leben im Griff und es ganz allgemein geschafft — Zum Thema „Hinter den Kulissen aber …“ sei an dieser Stelle geschwiegen.
Im Idealfall ging man aber damals wie heute schlicht zum Beten hin und betrachtete den Rest der Gemeinde mit aufrichtigem, aber nicht übergriffigen oder Tratschsucht-motivierten Interesse am Nächsten. Zumindest wäre das wünschenswert, und ich hoffe, dass ich es bald auch wieder zur Kirche schaffe.
In der nächsten schlaflosen Nacht zappe ich durch das TV-Programm. Auf EWTN beginnt soeben „Grüß Gott aus Heiligenkreuz“. Die schönen Bilder vom Stift lassen in mir den Januar wieder aufleben, als das Jahr noch in aller Unschuld daherkam. Die Erinnerungen an diese wunderbare Zeit und die kühlen Klostermauern lassen gefühlt auch das Fieber weiter sinken. Gott ist ja überall, tröste ich mich. Und ich freue mich sehr darüber, dass mir nun, da mein Sehnen nach St. Nikolaus nicht erfüllt werden kann, nachts um 3 stattdessen ein ganzes Kloster geschickt wird.